Die Bewertung der Wiedervereinigung in Ostdeutschland
Noah Schulz – Universität Duisburg-Essen
Die unsichtbare Mauer – Politische Spaltung in Deutschland
Die Deutsche Wiedervereinigung stellt das Kernereignis der jüngeren deutschen Geschichte dar. Gerade für Ostdeutschland war die Einheit ein kollektiver Wendepunkt – kaum ein ostdeutscher Lebenslauf wurde nicht von dem Mauerfall und der darauffolgenden Wiedervereinigung geprägt. Nach dem Mauerfall war in Ostdeutschland nichts mehr, wie es vorher war: Gesetze, die am Morgen noch galten, waren abends nichtig. Das Fundament des gesellschaftlichen Lebens wurde über Nacht ersetzt, und mit ihm die Selbstverständlichkeiten des Alltags. Viele dieser Brüche wirken ökonomisch, politisch und sozial bis heute nach.
Obwohl die Wiedervereinigung beinahe 35 Jahre her ist, bleiben die politischen Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland omnipräsent. Sie äußern sich unter anderem in den politischen Einstellungen, dem Wahlverhalten und der parlamentarischen Repräsentation – und lassen sich bis heute als Ausdruck einer unsichtbaren Mauer zwischen beiden Landesteilen interpretieren.
Besonders sichtbar wird diese Spaltung an den Wahlurnen: In vielen Regionen Ostdeutschlands ist die AfD keine bloße Protestpartei mehr, sondern zu einer Art ostdeutscher Volkspartei geworden. Demnach verzeichnet die AfD bei der Bundestagswahl 2025 insbesondere in den neuen Bundesländern einen sprunghaften Anstieg an Wählerstimmen (Abb. 1-4). Während die AfD in den westdeutschen Wahlkreisen bei der Bundestagswahl 2025 einen durchschnittlichen Zweitstimmenanteil von 18,1 % erzielte, waren es in den neuen Bundesländern im Schnitt über 36 %. Medial wird der Erfolg der AfD in Ostdeutschland – nebst bereits bestehender Erklärungsansätze (wie Anti-Migrationseinstellungen, relativen Deprivationserfahrungen oder sozioökonomischen Faktoren) vor allem mit der Wiedervereinigung und ihren Folgen in Verbindung gebracht. Die AfD habe es verstanden, ein Gefühl politischer Entfremdung und historischer Kränkung in Wählerstimmen zu verwandeln. Wo früher Die Linke das Sprachrohr ostdeutscher Unzufriedenheit war, spreche heute die AfD von „Fremdherrschaft“, Ostdeutschen als „Bürger zweiter Klasse“ oder „Besserwessis“.
Abbildungen 1-4: Zweitstimmenanteile Bundestagswahl 2021 und 2025 im Vergleich




(Quelle: eigene Abbildungen auf Basis von Daten der Bundeswahlleiterin; die transparenteren Flächen symbolisieren geringere Stimmenanteile)
Trotz der hohen Salienz und erheblichen gesellschaftspolitischen sowie wissenschaftlichen Relevanz der Wiedervereinigung, wurden bis dato keine Studien durchgeführt, die sich explizit mit der ostdeutschen Perspektive auf die Bewertung der Wiedervereinigung beschäftigen. Deshalb sollen die beiden zentralen Forschungsfragen „Wie hat sich die Bewertung der Wiedervereinigung in Ostdeutschland im Zeitverlauf (zwischen 1991 und 2023) entwickelt?“ und „Welche individuellen Faktoren beeinflussen die Bewertung der Wiedervereinigung in Ostdeutschland?“ im vorliegenden Blog untersucht werden.
Erinnerung und Erfahrung: Die Bewertung der Wiedervereinigung im Zeitverlauf
Zwar könnte man angesichts des rapiden Aufstiegs der AfD und wachsender Unzufriedenheit mit dem politischen System vermuten, dass die Wiedervereinigung in Ostdeutschland zunehmend negativer eingeschätzt wird. Tatsächlich zeigt sich jedoch ein insgesamt positiver Zeittrend: Lag der Mittelwert der Zufriedenheit mit der Wiedervereinigung in Ostdeutschland 1991 noch bei 2,23, stieg er bis 2018 kontinuierlich auf 2,78 an (Abb. 5).
Abbildung 5: Ost-West-Vergleich: Bewertung der Wiedervereinigung im Zeitverlauf

(Quelle: eigene Abbildung auf Basis des ALLBUS 2023 (ZA8830) und der ALLBUS Kumulation 1980-2021 (ZA5284); abgebildet sind Mittelwerte und 95%ige Konfidenzintervalle)
In Anbetracht des massiven Anstiegs der Arbeitslosenquote und der ökonomischen Unsicherheiten in Ostdeutschland unmittelbar nach der Wiedervereinigung, ist die tendenziell negative Bewertung der Wiedervereinigung in den 90er-Jahren nicht weiter verwunderlich. Mit der schrittweisen wirtschaftlichen Erholung Ostdeutschlands (1990er) und dem Einleben in die „neue Realität“ stieg auch die Zufriedenheit mit der Wiedervereinigung in Ostdeutschland. Darüber hinaus lässt sich der konsolidierende Trend auch damit erklären, dass spätestens seit den 2010er-Jahren zunehmend Ostdeutsche die Einheit bewerten, die sie selbst nicht miterlebt haben und daher weder persönliche Erfahrungen mit dem Umbruch noch Erinnerungen an die DDR-Zeit besitzen.
Seit 2018 ist – entgegen dem Positivtrend – wieder ein leichter Rückgang bei der durchschnittlichen Zufriedenheit mit der Wiedervereinigung in Ostdeutschland zu beobachten (Abb. 5). Als potenzielle Ursachen hierfür können insbesondere die ökonomischen Unsicherheiten infolge des Ukraine-Kriegs sowie die wachsende Unzufriedenheit mit dem politischen System und der Ampel-Koalition angeführt werden.
Obgleich sich die durchschnittliche Zufriedenheit mit der Einheit in Ostdeutschland im Zeitraum 1991 bis 2023 signifikant erhöht hat, ist die Zufriedenheit in Westdeutschland immer noch größer als in den neuen Bundesländern. Folglich liegt die durchschnittliche Bewertung für das Jahr 2023 in den alten Bundesländern bei 3,09, während selbiger Wert im Jahr 1991 bei 2,92 lag (Abb. 5).
Abbildung 6: Bundesländervergleich: Bewertung der Wiedervereinigung im Zeitverlauf

(Quelle: eigene Abbildung auf Basis des ALLBUS 2023 (ZA8830) und der ALLBUS Kumulation 1980-2021 (ZA5284); Bundesländerzuordnung erfolgt nach Haupt-Wohnort in der Jugend)
Auch der Bundesländervergleich manifestiert, dass die Bewertungen der Einheit innerhalb der beiden Landesteile meist synchron verlaufen. Zwar existieren Unterschiede bei der Zufriedenheit mit der Wiedervereinigung zwischen den Bundesländern (z.B. 2023: Sachsen-Anhalt 2,83; Thüringen 2,49; Abb. 6). Jedoch kann davon ausgegangen werden, dass die Unterschiede zwischen den Bundesländern auf die geringe Anzahl an Befragten und Zufallsunterschiede zurückzuführen sind. Des Weiteren ist festzustellen, dass die Differenzen zwischen den alten und neuen Bundesländern immer noch größer sind als die bundesländerspezifischen Unterschiede innerhalb der beiden Landesteile. Bundesländer, die die Einheit dabei systematisch positiver (oder negativer) einschätzen, lassen sich dabei nicht identifizieren (Abb. 6).
Einflussfaktoren auf die Bewertung der Einheit in Ostdeutschland
Doch wie lässt sich erklären, warum manche Ostdeutsche die Wiedervereinigung positiver bewerten als andere? Die Analyse der ALLBUS-Daten aus dem Jahr 2023 zeigt, welche individuellen Merkmale und politischen Einstellungen dabei eine Rolle spielen.
Abbildung 7: Die Bewertung der Wiedervereinigung in Ostdeutschland nach Parteienpräferenz

(Quelle: eigene Abbildung auf Basis des ALLBUS 2023 (ZA8830); Befragte: nur Ostdeutsche)
Ein essenzieller Erklärungsansatz der Bewertung der Einheit ist die Parteienpräferenz. Ostdeutsche Befragte, die die AfD oder Die Linke wählen, bewerten die Wiedervereinigung im Schnitt negativer als die Wähler der anderen politischen Parteien. 50,2 % der befragten AfD-Wähler schätzen die Wiedervereinigung (eher) negativ ein, während bei den Wählern der Linken 46,5 % der Einheit (eher) kritisch gegenüberstehen (Abb. 7). Somit spielt sich die Wiedervereinigungskritik vor allem an den beiden politischen Rändern ab. Im Gegensatz dazu rangiert der Anteil der unzufriedenen Befragten bei den Wählern der Parteien der Mitte lediglich zwischen circa 24 % und 29 %, wobei nur 3,1 % bis 7,2 % der Befragten sehr unzufrieden mit der Wiedervereinigung sind (Abb. 7).
Um systematisch die Einflussfaktoren auf die Bewertung der Wiedervereinigung aus ostdeutscher Sicht zu eruieren und für weitere Variablen zu kontrollieren, wurden aus den vier theoretischen Erklärungsansätzen:
1. Politische Sozialisation,
2. Ökonomische Situation,
3. Soziale Identität,
4. Relative Deprivation
Hypothesen abgeleitet, die mithilfe einer Regressionsanalyse getestet werden.
In Abbildung 8 sind die standardisierten Regressionskoeffizienten mit den dazugehörigen 95%igen Konfidenzintervallen abgebildet. Sobald die 95%igen Konfidenzintervalle die 0 (vertikale gestrichelte Linie) nicht einschließen, haben die jeweiligen Variablen einen statistisch signifikanten (überzufälligen) Einfluss auf die Bewertung der Einheit in Ostdeutschland. Demzufolge haben sozialistische Einstellungen einen negativen und das Einkommen, die Wahrnehmung der eigenen wirtschaftlichen Lage und die Verbundenheit mit der eigenen Gemeinde einen positiven Effekt auf die Bewertung der Einheit.
Abbildung 8: Einflussfaktoren auf die Bewertung der Einheit in Ostdeutschland

(Quelle: eigene Berechnungen auf Basis des ALLBUS 2023 (ZA8830); Befragte: nur Ostdeutsche)
Dabei erweisen sich in Bezug auf die Effektstärke vor allem zwei Einflussfaktoren als bedeutsam (Abb. 8):
- Sozialistische Einstellungen: Je stärker ausgeprägt, desto kritischer die Bewertung der Einheit.
- Einschätzung der eigenen wirtschaftlichen Lage: Je besser wahrgenommen, desto positiver die Bewertung der Wiedervereinigung.
Dadurch wird deutlich, dass neben der ideologischen Prägung (politischen Sozialisation) vor allem der Erklärungsansatz der ökonomischen Situation einen relevanten Einfluss auf die Bewertung der Einheit besitzt. Jedoch ist auffällig, dass nicht die objektive, individuelle wirtschaftliche Situation (Einkommen) primär relevant ist, sondern vielmehr die subjektive Wahrnehmung dieser (Einschätzung der eigenen wirtschaftlichen Lage).
Ergänzend zu den angeführten relevanten Faktoren ist ebenso der Interaktionsterm zwischen Arbeitslosigkeit und Wahl der AfD signifikant. Somit bewerten ostdeutsche AfD-Wähler, die in den letzten zehn Jahren arbeitslos waren, die Wiedervereinigung negativer (ca. 2,5) als AfD-Wähler, die nicht in den letzten zehn Jahren arbeitslos waren (ca. 2,8; Abb. 9). Der Einfluss der Arbeitslosigkeit ist bei den ostdeutschen Wählern anderer Parteien jedoch positiv (Abb. 9).
Das Resultat der Interaktion wirkt zwar auf den ersten Blick wenig intuitiv. Trotzdem lässt sich argumentieren, dass AfD-Wähler tendenziell pessimistischer hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Lage sind und häufiger vom Strukturwandel (Arbeitsplatzverlust) betroffen waren. Diese Erfahrungen können in politischer Unzufriedenheit und einer kritischeren Bewertung der Wiedervereinigung münden, die als initiale Ursache für den eigenen wirtschaftlichen Abstieg betrachtet wird. Außerdem könnten unterschiedliche Formen der Arbeitslosigkeit bei AfD-Wählern und Wählern anderer Parteien (z.B. Arbeitslosigkeit durch Stellenabbau oder freiwillige Arbeitslosigkeit, um den Job zu wechseln) konstitutiv für den Interaktionseffekt sein.
Abbildung 9: Interaktionseffekt: Arbeitslosigkeit und Wahl der AfD auf die Bewertung der Wiedervereinigung

(Quelle: eigene Berechnungen auf Basis des ALLBUS 2023 (ZA8830); Befragte: nur Ostdeutsche; abgebildet sind 95%ige Konfidenzintervalle der vorhergesagten Schätzungen)
Fazit: Wiedervereinigt aber nicht vereint?
Was lässt sich nun aus der Analyse der individuellen Faktoren und der Trendanalyse konkludieren? Die Analyse demonstriert, dass die Bewertung der Wiedervereinigung in Ostdeutschland vor allem von der politischen Sozialisation und der ökonomischen Situation geprägt ist. Insbesondere die subjektive Wahrnehmung der eigenen wirtschaftlichen Lage sowie sozialistische Einstellungen erweisen sich als zentrale Einflussfaktoren. Darüber hinaus verdeutlicht der Interaktionseffekt zwischen Arbeitslosigkeit und AfD-Wahl, dass die Kombination aus erlebter sozioökonomischer Unsicherheit und politischer Entfremdung mit einer besonders kritischen Bewertung der Wiedervereinigung einhergeht.
Während sich die durchschnittliche Zustimmung zur Einheit im Zeitverlauf in den neuen Bundesländern erhöht hat, bestehen weiterhin signifikante Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Auch 35 Jahre nach der Wiedervereinigung lässt sich – in Anlehnung an Pickel & Pickel (2023) – weiterhin von einer „Mauer in den Köpfen“ sprechen, die die politische Kultur in Deutschland entlang der alten Grenze trennt, wenngleich diese Mauer zunehmend Risse zeigt.
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