Wahlbetrug bei Bundestagswahlen?

Von Achim Goerres

Eine 100%iger Sicherheit über die Rechtmäßigkeit der Auszählung bei Bundestagswahlen kann es nicht geben. Aber was wissen wir über mögliche Unregelmäßigkeiten? Dieser Beitrag stellt ein statistisches Verfahren zur Entdeckung von Problemen bei der Auszählung vor.

Bei der Bundestagswahl 2013 waren etwa 600.000 Menschen mit der Auszählung und der Verwaltung der Wahl beschäftigt. Das entspricht ungefähr der Einwohnerzahl der Stadt Essen. Dass es zu vereinzelten Fehlern bei vergangenen Bundestagswahlen kam, ist vielfach dokumentiert: manche Wahllokale wurden beispielsweise erst sehr spät geöffnet, oder bei einigen wurden im ersten Anlauf Stimmen nicht korrekt gezählt. Bewusste Manipulationen durch Beteiligte sind allerdings für Bundestagswahlen nicht dokumentiert, anders als bei kommunalen Wahlen in der Vergangenheit: Bei den Kommunalwahlen der Stadt Dachau im Jahr 2002 und den Wahlen zum Integrationsrat der Stadt Duisburg im Jahr 2010 beispielsweise kam es laut Gerichtsentscheid bzw. nach Ansicht der Staatsanwaltschaft zu Manipulationsversuchen. In Dachau hatte sich zum Beispiel ein Stadtrat die Vollmachten von einigen hundert Wahlberechtigten geben lassen und dann die Stimmen in seinem Sinne abgegeben.

Für Bundestagswahlen stellt sich daher die Frage: Ist Wahlbetrug bisher einfach nicht entdeckt worden, oder hat es ihn wirklich noch nicht gegeben? Um diesen Fragen nachzugehen, habe ich zusammen mit Christian Breunig eine umfassende Studie über die Bundestagswahlen 1990 bis 2005 durchgeführt. Für diese Studie haben wir alle Parteien- und Kandidatenergebnisse der etwa 80.000 Wahlbezirke Deutschlands analysiert. Wahlbezirke, deren Lokale typischerweise in Schulen, Turnhallen, anderen öffentlichen Gebäuden oder Gaststätten untergebracht sind, umfassen bis zu 2500 Wahlberechtigte. Für alle größeren Parteien, CDU, CSU, SPD und PDS/Linke in den neuen Bundesländer, sowie deren Direktkandidaten haben wir die Anzahl der Ziffern an der zweiten Stelle der Stimmergebnisse gezählt. Wenn also eine Partei in einem Wahlbezirk 12 Stimmen, in einem zweiten 32 und in einem dritten 99 Stimmen erhalten hatte, haben wir für sie zweimal eine 2 und einmal eine 9 notiert. Diese Auszählung haben wir für Wahlkreise (mit je etwa 250.000 deutschen Staatsbürgern) und für Bundesländer durchgeführt.

Wenn Wahlergebnisse „natürlich“ entstehen, muss die Häufigkeit der Ziffern an der zweiten Stelle aus einer großen Anzahl von Wahlbezirken einer bestimmten Verteilung folgen. Diese Verteilung beschreibt das  Benfordsche Gesetz. „Natürlich“ bedeutet hier ohne ein Eingreifen, wie es z.B. durch Wahlbetrug oder durch systematische Fehler entstehen würde. Nach diesem Gesetz ist die erwartete Häufigkeit umso größer, je kleiner der Nennwert der Ziffer ist. Die Ziffer 0 sollte demnach mit einer Häufigkeit von 11,97 %, die Ziffer 1 mit der Häufigkeit 11,39 % usw. – und am Ende die Ziffer 9 mit der Häufigkeit 8,50 % auftreten. Diese Gesetzmäßigkeit tritt in der Realität immer dann und zwar nicht nur bei Wahlen auf, wenn Zahlen aus mehreren natürlich ablaufenden Prozessen zusammenkommen. Wenn man beispielsweise alle Zahlen der ersten FAZ-Seiten eines Jahres aufschriebe, würden ihre Häufigkeiten dem Benfordschen Gesetz folgen, weil sie aus ganz unterschiedlichen Entstehungsprozessen kommen. Bei Wahlen entstehen die Wahlergebnisse ebenfalls aus dem Zusammenspiel vieler Prozesse: der Aufstellung der Kandidaten in den Wahlkreisen, den Abstimmungen über die Parteilisten, der generellen Popularität der Partei, zufälligen Fehlern und vielem mehr. Ein statistischer Test kann schließlich mit einer hohen Wahrscheinlichkeit angeben, inwieweit die beobachteten Häufigkeiten eine Abweichung von der Benfordschen Verteilung darstellen, die nicht nur durch Zufall entstanden sind.

Diese wissenschaftliche Überprüfung ist wie der Einsatz eines Fieberthermometers; man kann damit eine Erkrankung feststellen, ohne etwas über die Ursachen zu wissen. Man kann damit herausfinden, wo Indizien für Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung vorliegen, die darauf hindeuten könnten, dass Menschen betrogen oder systematische Fehler begangen haben. Man kann damit keine Aussagen darüber treffen, welche Partei von Unregelmäßigkeiten Vor- oder Nachteile hatte. Allerdings kann uns die Überprüfung des Benfordschen Gesetzes drei wichtige Fragen beantworten:

Gab es Indizien für Wahlbetrug?

Nur in einem einzigen Kontext. Bei der Bundestagswahl 2002 gab es viele Verletzungen des Benfordschen Gesetzes für die Wahlergebnisse der PDS in den neuen Bundesländern. Eine Verletzung bedeutet eine statistische Wahrscheinlichkeit von über 95 %, dass die Verteilung tatsächlich nicht dem Benfordschen Gesetz entsprach. Angesichts der Tatsache, dass die PDS damals in den Umfragen unter 5 % gesehen wurde (und letztendlich nur durch Direktmandate vertreten werden würde), bedeutet diese Häufigkeit, dass zugunsten oder zuungunsten der PDS ausgezählt worden sein könnte. Alle anderen Tests, vor allem bei den Direktkandidaten, bei denen eine falsche Auszählung der Erststimmen direkten Einfluss auf einen Sitz in Parlament gehabt hätte, wiesen auf keine systematischen Probleme hin.

Gab es Anzeichen für schlechtes Management?

Nein. Gerade in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung 1990 hätte man gehäufte Probleme aufgrund von Umsetzungsschwierigkeiten erwarten können. Diese haben wir nicht gefunden.

Gab es Indizien für systematische Fehler?

Ja. Je dominanter eine Partei in einem Bundesland ist, desto wahrscheinlicher sind Verletzungen des Gesetzes. Diese Muster verlangen weitere Forschung, weil sie beispielsweise auf Qualitätsunterschiede in der Auszählung aufgrund der Zusammensetzung der Wahlhelfer zurückgehen könnten.

 

Insgesamt offenbaren die Ergebnisse dieser Tests, dass es wenig Grund zur Beunruhigung gibt. Dafür, dass der Wahlprozess in Deutschland sehr komplex und vielschichtig ist, gab es erstaunlich wenige Verletzungen des Benfordschen Gesetzes. Kurz:  dieses Fieberthermometer bescheinigt der deutschen Demokratie höchstens eine leicht erhöhte Temperatur, die sicherlich erforscht werden, aber nicht Anlass zum Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Wahlauszählung geben sollte.

 

Verwendete Quellen

Breunig, Christian/Goerres, Achim (2011): Searching for Electoral Irregularities in an Established Democracy: Applying Benford’s Law Tests to Bundestag Elections in Unified Germany, Electoral Studies, 30: 534-45.

Malsch, Bodo (2011): Staatsanwaltschaft geht von Wahlfälschung aus, WAZ, 12.04.2013.

Süddeutsche Zeitung, Dachauer Wahlfälscher müssen mehr als 116.000 Euro zahlen, 08.08.2006, online abgefragt 03.07.2009.

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