Ergebnisse aus einem Solidaritätsspiel in Österreich, West‑ und Ost‑Deutschland
Machen Linke mehr Geschenke? Diese Frage klingt vielleicht absurd, zielt aber auf eine zentrale politische Differenz: Menschen, die sich links einordnen oder linke Parteien wählen, unterstützen mehr staatliche Umverteilung als Rechte. Forderungen lassen sich jedoch leicht stellen: Sind Linke aber auch bereit umzuverteilen, wenn es sie selbst etwas kostet? Achim Goerres und ich haben in einer kürzlich in der Zeitschrift Electoral Studies veröffentlichten Studie die Umverteilungsbereitschaft von Linken und Rechten untersucht
In der Studie nutzen wir das Solidaritätsspiel, ein experimentelles Entscheidungsspiel, das reale Verteilungssituationen im Kleinen nachbildet. Entwickelt wurde es von den Verhaltensökonomen Reinhard Selten und Axel Ockenfels. Obwohl es als Spiel bezeichnet wird, geht es dabei vor allem um Entscheidungen: Die Teilnehmenden entscheiden, welchen Anteil eines möglichen Gewinns sie an andere Gruppenmitglieder abgeben, bevor sie wissen, ob sie selbst gewonnen haben.
In unserer abgewandelten Variante des Solidaritätsspiels werden die Teilnehmenden zufällig in Dreiergruppen eingeteilt. In jeder Runde hat jede Person mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln die Chance auf den Gewinn von einem Euro, sonst geht sie leer aus. Bevor Teilnehmende das Ergebnis kennen, entscheiden sie, welchen Anteil eines möglichen Gewinns sie an verlierende Mitglieder ihrer Gruppe abgeben. In unserem abgewandelten Solidaritätsspiel absolvieren die Teilnehmenden insgesamt zehn Runden in derselben Gruppe. So beobachten wir wie in der echten Welt üblich wiederholte Interaktionen und messen nicht bloß Absichten und Einstellungen, sondern echtes, potenziell kostspieliges Geschenkverhalten.
Wir haben das Solidaritätsspiel mit einer einfachen Erklärung und Beispielgrafiken in eine Online-Befragung eingebettet. Über das respondi/Bilendi-Panel wurden Teilnehmende in Österreich, Westdeutschland und Ostdeutschland rekrutiert. Nachdem wir diejenigen ausgeschlossen haben, die drei Verständnisfragen vor dem Solidaritätsspiel nicht korrekt beantwortet haben, verbleiben etwa 1.000 Befragte für die Analyse. Die Erhebung der Daten fand vom 22. Februar bis 8. März 2023 statt. Technisch setzten wir das Solidaritätsspiels mit der Python-basierten Plattform oTree um.
Passend zur Adventszeit fällt unser erstes Ergebnis erfreulich aus: Die meisten Menschen sind bereit zu geben. Trotz vollständiger Anonymität und ohne Strafe für ausbleibende Abgaben lag das durchschnittliche Geschenk bei etwa 24 Cent pro Runde, also etwa einem Viertel des möglichen Gewinns. Weniger als 3 % der Personen gaben gar nichts an andere ab. Die Unterschiede zwischen soziodemografischen Gruppen sind gering: Unterschiede nach Geschlecht und Bildung sind kaum vorhanden. Ältere Personen und solche mit höherem Einkommen machen jedoch tendenziell etwas größere Geschenke.
Zwischen Österreich, Westdeutschland und Ostdeutschland finden wir ebenfalls keine signifikanten Unterschiede in den Geschenken. Das ist besonders spannend, weil Studien aus den späten 1990er- und 2000er-Jahren noch deutlich geringere Abgaben bei Ostdeutschen fanden. Zumindest in dieser Hinsicht scheinen sich Ost- und West-Deutsche also anzunähern.
Unser zweites zentrales Ergebnis: Personen, die sich selbst als eher links einstufen, geben signifikant mehr als Personen, die sich als Rechts einstufen. Die Unterschiede zwischen Links und Rechts sind dabei substantiell: Unser Modell sagt für eine ganz linke Person ein Geschenk von etwa 29 Cent pro Runde voraus, während es für eine ganz rechte Person nur 20 Cent sind. Dieses Ergebnis finden wir nahezu unverändert, wenn wir für zahlreiche andere Faktoren kontrollieren.
Wie lässt sich das unterschiedliche Verhalten von linken und rechten Teilnehmenden theoretisch erklären? Nach John T. Jost beruht die Unterscheidung zwischen links und rechts auf zwei Grundüberzeugungen: Einerseits der Befürwortung oder Ablehnung von sozialem Wandel, und andererseits der Akzeptanz oder Ablehnung von sozialer, wirtschaftlicher oder politischer Ungleichheit (Jost 2021, Seite 30). Besonders die zweite Dimension kann unseren Befund erklären: Entstehen im Solidaritätsspiel zufällig Ungleichheiten, neigen linke Personen aufgrund ihrer stärkeren Ablehnung von Ungleichheit eher dazu, durch hohe Geschenke auf eine stärkere Gleichheit hinzuwirken. Rechte Personen akzeptieren diese Ungleichheit eher. Dazu kommt bei ihnen möglicherweise die Aversion, in einen durch die Regeln des Spiels geschaffenen „natürlichen“ Status Quo einzugreifen.

Abbildung 1: Verteilung der durchschnittlichen Abgaben nach Links-Rechts-Selbsteinstufung und Region, mit bivariaten Regressionslinien in blau
Schließlich fanden wir doch noch einen Unterschied im Verhalten der Teilnehmenden aus Österreich, Westdeutschland und Ostdeutschland (siehe auch Abbildung 1): Die Unterschiede in der Höhe der Geschenke zwischen Links und Rechts waren bei den ostdeutschen Teilnehmenden viel größer. Während ganz linke Teilnehmende in Österreich und Westdeutschland nur etwa 8 Cent pro Runde mehr gaben als jene ganz Rechts, betrag dieser Unterschied in Ostdeutschland fast 30 Cent. Das spricht dafür, dass ideologische Selbstverortung dort stärker verhaltensrelevant ist.
Warum die Unterschiede zwischen links und rechts je nach Kontext unterschiedlich groß sind, können wir nicht abschließend beantworten. Eine Erklärung könnten zufällige oder systematische Unterschiede in der Zusammensetzung der Online-Stichproben zwischen den Regionen sein. Daher sollten die Ergebnisse unsere Studie mit anderen Panelanbietern repliziert werden. Plausibel ist zudem, dass sich das Verständnis der Bedeutung von „links“ und „rechts“ zwischen den Kontexten unterscheidet. Am überzeugendsten ist für uns jedoch eine Erklärung durch die unterschiedlichen Parteiensystemen, die politische Ideologie unterschiedlich stark für Verhalten aktivieren: In Ostdeutschland ist durch das ausgeprägtere Erstarken der AfD stärker die Notwendigkeit entstanden, sich auf der Links-Rechts-Dimension zu positionieren. Dadurch verorten sich in Ostdeutschland mehr Menschen klar auf dieser Achse, und diese Orientierung wird bei konkretem Verhalten präsenter, was den größeren Effekt von Ideologie in unserem Spiel erklärt.
Einige Einschränkungen sind für unsere Ergebnisse zu machen: Erstens basiert die Studie auf einer nichtzufälligen Online‑Stichprobe. Inferenzstatistische Schlüsse auf die Gesamtbevölkerung Österreichs und Deutschlands sind daher nicht möglich. Zweitens haben wir die Analyse nicht nur mit der Links-Rechts-Selbsteinstufung, sondern auch mit der Unterstützung für linke oder rechte Parteien durchgeführt. Dabei war der Zusammenhang mit Geschenken nur für einen der Indikatoren der Links-Rechts-Position der präferierten Partei (aus den Daten des Chapel Hill Expert Surveys) signifikant. Die Ergebnisse für den zweiten Indikator der Links-Rechts-Position der präferierten Partei (aus den Daten des MARPOR-Projekts) waren dagegen nicht eindeutig.
Unser Fazit für die Weihnachtszeit und darüber hinaus: Ideologie ist mehr als Rhetorik oder Meinung. Sie beeinflusst messbar, wie viel Menschen bereit sind, anderen zu geben: Linke Personen geben mehr. Dieser Einfluss ist kontextabhängig und fällt in Ostdeutschland deutlich stärker aus als in Österreich und Westdeutschland. Ob sich unsere Ergebnisse auch auf Weihnachtsgeschenke übertragen lassen, wird sich in einigen Tagen zeigen …
Literaturhinweise:
Brosig-Koch, J., Helbach, C., Ockenfels, A., & Weimann, J. (2011). Still different after all these years: Solidarity behavior in East and West Germany. Journal of Public Economics, 95(11), 1373–1376. https://doi.org/10.1016/j.jpubeco.2011.06.002
Chen, D. L., Schonger, M., & Wickens, C. (2016). oTree—An open-source platform for laboratory, online, and field experiments. Journal of Behavioral and Experimental Finance, 9, 88–97. https://doi.org/10.1016/j.jbef.2015.12.001
Goerres, A., & Eicheler, J. (2025). Do voters on the left show more solidarity behaviour? Novel behavioural evidence from interactive surveys in Austria, West and East Germany. Electoral Studies, 97, 102980. https://doi.org/10.1016/j.electstud.2025.102980
Ockenfels, A., & Weimann, J. (1999). Types and patterns: An experimental East-West-German comparison of cooperation and solidarity. Journal of Public Economics, 71(2), 275–287. https://doi.org/10.1016/S0047-2727(98)00072-3
Selten, R., & Ockenfels, A. (1998). An experimental solidarity game. Journal of Economic Behavior & Organization, 34(4), 517–539. https://doi.org/10.1016/S0167-2681(97)00107-8
Link zur Homepage des POLITSOLID-Projekts: achimgoerres.de/politsolid
Hinweis:
Dieser Blog basiert auf dem Artikel „Do voters on the left show more solidarity behaviour? Novel behavioural evidence from interactive surveys in Austria, West and East Germany” von Achim Goerres und Jakob Eicheler, der in Electoral Studies veröffentlicht wurde.
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