Die Wirkung deliberativer Verfahren – Bürgerräte in Deutschland

Jessica Kuhlmann

Am 20. Februar übergibt der Bürgerrat Ernährung als erster Bürgerrat des Deutschen Bundestages sein Gutachten mit Empfehlungen zum Thema „Ernährung im Wandel“ an die Mitglieder des Deutschen Bundestages. Die Veröffentlichung seiner Empfehlungen bietet einen passenden Anlass, die wachsende Bedeutung von Bürgerräten in Deutschland genauer zu betrachten. 

Insbesondere die Bürgerräte in Frankreich und Irland erlangten international große Aufmerksamkeit. Aber auch in Deutschland wächst die Anzahl an durchgeführten Bürgerräten auf allen Ebenen. Die Stadt Aachen beschloss im März 2022 als erste Kommune sogar einen ständigen Bürgerrat einzuführen, während bundesweit seit 2019 acht Bürgerräte stattfanden, welche sich unter anderem mit den Themen Demokratie, künstlicher Intelligenz und nun Ernährung auseinandersetzten. 

Was sind Bürgerräte?

Bürgerräte zeichnen sich dadurch aus, dass per Zufallsauswahl eine kleine Personengruppe, welche meist zwischen 50 und 160 Bürger*innen umfasst, aus der Bevölkerung gelost wird. Diese Personengruppe soll stellvertretend für die gesamte Bevölkerung über ein Thema diskutieren, beraten und öffentlich dazu Stellung beziehen. Basis des Aushandlungsprozesses, welcher über mehrere Wochen oder Monate verläuft, ist die Information durch eingeladene Expert*innen. 

Bürgerräten liegt die Idee zugrunde, dass die Möglichkeit direkter Beteiligung das Gefühl politischer Mitsprachemöglichkeit in der Bevölkerung erhöht. Im Unterschied zu Volksabstimmungen, welche als Nullsummenspiel Gewinnende und Verlierende schaffen, sollen Bürgerräte Gespräche anregen, einen gemeinschaftlichen Austausch auf Augenhöhe fördern sowie Kompromisse schaffen. In der Praxis stellt sich jedoch die Frage, wie inklusiv Bürgerräte sind und wie effektiv dieses deliberative Verfahren schließlich sowohl bezüglich der entstehenden Maßnahmen als auch der Herstellung demokratischer Legitimität in der Bevölkerung sind.

Wer nimmt teil? Wer wird gehört?

Grundlage der Bürgerräte ist, dass Bürger*innen per Losverfahren zufällig als Teilnehmende ausgewählt werden. Diese zufällige Auswahl, kombiniert mit einer Stratifizierung, anhand von Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Herkunft (Bundesland und Gemeindegröße) und Bildungshintergrund stellen Repräsentativität bezogen auf die Merkmale der Gesamtgesellschaft her. Eine soziale Schieflage durch mehr Beteiligung von Personen mit vergleichsweise vielen Ressourcen – sei es verfügbare Zeit oder politisches Wissen – wird dadurch vermieden und einer sozialen Selektivität wird entgegengewirkt. So zeichnen sich alternative Formen der direkten Partizipation wie bspw. die Volksgesetzgebung meist durch eine überproportionale Teilnahme von Bürger*innen mit höherem Bildungsstand aus. Um sicherzustellen, dass alle Bevölkerungsschichten auch während des Aushandlungsprozesses gehört werden, kommt insbesondere den Moderator*innen, welche durch die Veranstalter ausgewählt werden, eine wesentliche Funktion zu, zu verhindern, dass einzelne Teilnehmende die Debatte dominieren.

Die Wirkung von Bürgerräten

Bürgerräte wirken insbesondere auf die teilnehmenden Bürger*innen. Durch die transformativen Erfahrungen der Aushandlung erzeugen sie ein erhöhtes Gefühl politischer Selbstwirksamkeit, ein erhöhtes Vertrauen in politische Prozesse und verstärken den Wunsch, an zukünftigen Aushandlungsverfahren teilzunehmen. Diese Aneignung von Informationen zum entsprechenden Thema sowie die Erfahrungen der Aushandlung und Entscheidungsfindung werden jedoch ausschließlich von den Teilnehmenden durchlaufen. Eine Akzeptanz der aus den Empfehlungen resultierenden Entscheidungen in der Gesamtgesellschaft – insbesondere bei dem Großteil der Bürger*innen, die nicht am Bürgerrat teilgenommen haben – wird jedoch kaum geschaffen. Überdies bietet sich aufgrund der rein beratenden Funktion von Bürgerräten für Politiker*innen die Möglichkeit, unbeliebte Empfehlungen zu ignorieren und Rosinenpicken zu betreiben oder gar Empfehlungen vollständig unbeachtet zu lassen. So hatten bisherige Bürgerräte in Australien, den Niederlanden oder Island aufgrund ihres beratenden, unverbindlichen Charakters nur geringfügige Effekte auf die Politik.

Wie können Bürgerräte verbindlicher werden?

Eine mögliche Gegenmaßnahme ist die Einbettung eines formellen Folgeverfahrens in den Prozess, bei welchem circa ein Jahr später reflektiert und über die Umsetzung durch die Politik gesprochen wird. Dem Detailkonzept des Bürgerrates Ernährung zufolge ist solch ein Folgeverfahren nicht vorgesehen und das Projekt mit Veröffentlichung des Bürgergutachtens im Februar 2014 abgeschlossen. Inwiefern die Empfehlungen des Bürgerrates tatsächlich umgesetzt werden, bleibt somit zu beobachten.

Auch eine kontinuierliche mediale Begleitung fördert sowohl die Bedeutung der Empfehlungen für die Politiker*innen als auch die Akzeptanz des Verfahrens und der entstandenen Empfehlungen durch die allgemeine Bevölkerung. Bisherige Bürgerräte wiesen in Deutschland zwar tendenziell eine verminderte Sichtbarkeit auf, als erster Bürgerrat des deutschen Bundestages hat der Bürgerrat Ernährung jedoch die Möglichkeit, allgemein größere Aufmerksamkeit zu erhalten. So gab der Deutsche Bundestag selbst den Auftrag und bekundete ein konkretes Interesse am Thema Ernährung. Dies erhöht auch die Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Umsetzung der Empfehlungen durch die Politik. Eine hohe Verbindlichkeit würde hingegen die Verbindung der Empfehlungen des Bürgerrates mit nationalen Volksabstimmungen schaffen, so geschehen 2018 in Irland bezüglich der Einführung eines nationalen Rechts auf Abtreibung. Dies würde zugleich auch die Gesamtbevölkerung in den Prozess einbinden. Eine Verbindung dieser beiden direktdemokratischen Maßnahmen ist in Anbetracht der Zurückhaltung gegenüber bundesweiten Volksabstimmungen in Deutschland jedoch vergleichsweise unwahrscheinlich.

Fazit

Bürgerräte gelten als institutionelle Lösung für moderne demokratische Herausforderungen wie zunehmende gesellschaftliche Polarisierung. Mithilfe der bereitgestellten Informationen und eines tiefen Aushandlungsprozesses sollen insbesondere konfliktreiche Themen behandelt und der gesellschaftliche Zusammenhalt sowie die Selbstwirksamkeit der Bürger*innen gestärkt werden. Empirisch zeigt sich jedoch die begrenzte Möglichkeit von Bürgerräten, politischen Wandel herbeizuführen. So schafft der unverbindliche und beratende Charakter von Bürgerräten – bei vergleichsweise geringer medialer Aufmerksamkeit – Anreize für die Politik, Empfehlungen teilweise oder vollständig unbeachtet zu lassen. Ohne die Implementation eines formellen Folgeverfahrens bleibt auch beim aktuellen Bürgerrat Ernährung abzuwarten, ob und in welcher Form die Empfehlungen Anklang in der Politik finden werden.

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