Der Wohlfahrtsstaat als Hindernis für Solidarität mit anderen EU-Ländern?

Von Patrick Clasen

Wohlfahrtsstaaten prägen die Umverteilungseinstellungen von Menschen. Vereinfacht lässt sich sagen, dass Menschen, die in großzügigen Wohlfahrtsstaaten sozialisiert sind, eher bereit sind Umverteilungsmaßnahmen zu unterstützen als jene, die in weniger großzügigen Wohlfahrtsstaaten sozialisiert sind. 

Lässt sich dies auch über europäische Solidarität sagen, hat der Wohlfahrtsstaat also eine Art positiven externen Einfluss auf die individuelle Bereitschaft, anderen EU-Ländern zu helfen? In der nun im Journal of European Social Policy erschienenen Studie „Treating Nations like People: How responsibility attributions shape citizens’ fiscal solidarity with other EU countries“ bin ich unter anderem dieser Frage nachgegangen. Die Studie beruht auf Daten des Forschungsprojekts REScEU, für das im Sommer 2019 rund 15.000 Menschen in zehn EU-Ländern gefragt wurden, ob sie bereit wären, einen EU-Fonds zu finanzieren, der anderen EU-Ländern in wirtschaftlichen oder finanziellen Krisensituationen hilft. Abbildung 1 zeigt die Zustimmung zu einem solchen Fonds in den befragten Ländern. 

Vor dem Hintergrund, dass Wohlfahrtsstaaten einen positiven Effekt auf die Einstellung zu Umverteilungsmaßnahmen innerhalb des Nationalstaates haben, stelle ich die Annahme auf, dass Menschen in großzügigen Wohlfahrtsstaaten eher bereit sind, europäisch umzuverteilen, als Menschen in schwächeren Wohlfahrtsstaaten.

Abbildung 1. Unterstützung für einen gemeinsamen EU-Fonds unter den Befragten.

Tatsächlich zeigt sich auch ein Zusammenhang zwischen dem nationalen Wohlfahrtsstaat und der individuellen europäischen Solidarität. Nur: Der Effekt ist genau umgekehrt. In Ländern mit einem starken Wohlfahrtsstaat ist die Bereitschaft zur Umverteilung zwischen EU-Ländern schwächer ausgeprägt als in Ländern mit einem schwachen Wohlfahrtsstaat.

In der Studie lege ich dar, dass dies vor allem mit Verantwortungszuschreibungen zusammenhängt: Menschen in starken Wohlfahrtsstaaten sind eher geneigt die Verantwortung anderer Länder für eine Notsituation in Betracht zu ziehen. Wenn Menschen glauben, dass andere Länder selbst schuld für ihre wirtschaftliche Krise sind, sind diese Menschen in der Tendenz weniger bereit, europäische Umverteilung zu unterstützen. Abbildung 2 zeigt das Ergebnis einer Regressionsschätzung und stellt den Zusammenhang zwischen der Effektivität des Wohlfahrtsstaates, Verantwortungszuschreibungen und der Wahrscheinlichkeit, sich solidarisch mit anderen EU-Ländern zu verhalten, dar. 

Abbildung 2. Die geschätzte Wahrscheinlichkeit, sich solidarisch mit anderen EU-Ländern zu verhalten, in Abhängigkeit der Effektivität des Wohlfahrtsstaates und von Verantwortungszuschreibungen.

In Ländern mit einem schwächeren Wohlfahrtsstaat, wie Spanien, macht es keinen Unterschied, ob ärmeren Ländern die Verantwortung für eine Krisensituation zugeschrieben wird. In Ländern mit einem effektiven Wohlfahrtsstaat hingegen, etwa in Finnland, sind Menschen, die die Verantwortung ärmeren Ländern zuschreiben, deutlich unwahrscheinlicher bereit, sich solidarisch zu verhalten.  

Wohlfahrtsstaaten haben also keinen Sozialisierungseffekt auf europäische Solidarität. Stattdessen ist die individuelle Bereitschaft zur europäischen Solidarität maßgeblich von der finanziellen Nettobilanz des eigenen Landes geprägt. In ärmeren Ländern ist die Bereitschaft zur europäischen Solidarität größer als in reichen Ländern. In diesem Licht ist auch der Befund zum Wohlfahrtsstaat zu sehen. In Ländern wie Finnland scheinen Menschen einen Konflikt zwischen nationaler und europäischer Solidarität wahrzunehmen. Öffentliche Mittel, die in andere Länder fließen, können schließlich nicht gleichzeitig für nationale Wohlfahrtsprogramme verwendet werden. 

Ist der nationale Wohlfahrtsstaat also ein natürliches Hindernis für die Solidarität mit anderen EU-Ländern? Eher nicht. Fragen europäischer Solidarität sind meist fernab von der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen. Deswegen ist davon auszugehen, dass viele Menschen sich auf Signale von politischen Akteuren verlassen, um zu einer Haltung zu kommen. Anekdotisch lässt sich zum Beispiel feststellen, dass die frugalen Vier – also die Regierungen von Schweden, Dänemark, Niederlande, Österreich -, die bei der Verabschiedung des EU-Wiederaufbauplans im Jahr 2020 vehement für eine Kürzung des EU-Etats eintraten, zu den Ländern gehören, die besonders stark ausgeprägte Wohlfahrtsstaaten haben. Der negative Zusammenhang zwischen der Effektivität des Wohlfahrtsstaates und europäischen Solidaritätseinstellungen muss also kein zwangsläufiger sein, sondern hängt vom Diskurs politischer Eliten ab. Wie dieser Zusammenhang genau aussieht, wird weitere Forschung aufzeigen müssen.

Literaturhinweise:

Armingeon, K. (2020). „Fiscal solidarity: The conditional role of political knowledge.“ European Union Politics 22(1): 133-154.

Clasen, P. (2024). Treating nations like people: How responsibility attributions shape citizens’ fiscal solidarity with other EU countries. Journal of European Social Policy. Donati, N., et al. (2021). „European Solidarity at a Crossroads. Citizen views on the future of the European Union. REScEU Working Paper.“ from www.euvisions.eu.

Donati, N., et al. (2021). „European Solidarity at a Crossroads. Citizen views on the future of the European Union. REScEU Working Paper.“ from www.euvisions.eu.

Gelissen, J. (2000). „Popular support for institutionalised solidarity: a comparison between European welfare states.“ International Journal of Social Welfare 9(4): 285-300.

Vasilopoulou, S. and L. Talving (2020). „Poor versus rich countries: a gap in public attitudes towards fiscal solidarity in the EU.“ West European Politics 43(4): 919-943.

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