Die europäische Gig Economy wächst rasant. Nachdem ihr Wert für 2016 noch auf ca. 3 Mrd.€ geschätzt wurde, bemisst die Europäische Union (EU) ihre Wirtschaftsleistung für 2020 mit insgesamt 14 Mrd.€, was einem Zuwachs von 466% in nur vier Jahren entspricht. Nichtsdestotrotz liegt ihr Anteil an der Gesamtwirtschaftsleistung der EU damit bei nur 0,001% des EU-Bruttoinlandsprodukts – dies wirft zwei Fragen auf, die diesem Beitrag zugrunde liegen sollen: Was ist die Gig Economy überhaupt und warum sollte sie uns als Politikwissenschaft und als Gesellschaft interessieren?
Beschäftigte in der Gig Economy – das neue Prekariat?
Die Gig Economy ist geprägt von kurzzeitiger und kurzfristiger Beschäftigung auf Projektbasis, bei der die Jobs über Apps und digitale Plattformen vermittelt werden, weshalb sie häufig auch als Plattformökonomie bezeichnet wird. Der Begriff „Gig Economy“ ist der Musikbranche entlehnt und soll in euphemistischer Art die kurze Dauer des Beschäftigungsverhältnisses unterstreichen. Beispiele typischer Gig-Jobs sind Taxiservices wie Uber und Bolt, Lebensmittel- oder Essenslieferservices wie Gorillas und Deliveroo oder aber Freelance-Tätigkeiten wie einzelne Übersetzungs- oder Programmieraufträge. Diese Beispiele zeigen bereits die Vielfältigkeit der mit der Gig Economy assoziierten Jobs und damit verbunden die Heterogenität von Arbeits- und Lebensbedingungen der Gig-Arbeiter*innen.
Gemeinsamer Nenner jeder Art von Gig-Arbeit ist ihre (Hyper-)Flexibilität. Insbesondere die Plattformfirmen werben damit, dass Arbeitnehmer*innen so in der Lage seien, ihre Arbeitszeit frei einzuteilen und selbst entscheiden zu können, wann – und je nach Tätigkeit wo – sie arbeiten. Die Flexibilität, die für Arbeitgeber*innen vor allem Vorteile mit sich bringt, kann für Arbeitnehmer*innen jedoch erhebliche Unsicherheiten und prekäre Arbeitsbedingungen bedeuten. Laut EU sind 93% aller Gig-Beschäftigten als Selbstständige eingestuft, jede*r Fünfte davon fälschlicherweise, sodass ihnen nicht die gleichen Rechte und der gleiche Schutz zustehen wie Angestellten. Kranken-, Arbeitslosen- oder Rentenversicherung sowie bezahlter Urlaub sind ein Luxus, der Gig-Arbeiter*innen in der Regel nicht zuteilwird. Dies kann insbesondere dann problematisch werden, wenn Beschäftigte den Großteil ihrer Einnahmen aus Gig-Arbeit beziehen und z.B. im Krankheitsfall kein Einkommen generieren können.
Die Flexibilität selbst entscheiden zu können, wann man arbeitet, führt aufgrund der Prekarität vieler Gig-Arbeiter*innen häufig dazu, dass sie einfach immer arbeiten müssen.
Ein weiterer Aspekt, der mit der Selbstständigkeit der Gig-Arbeiter*innen einhergeht und ihre Prekarität unterstreicht, ist die teilweise sehr schlechte Bezahlung ihrer Tätigkeiten. Gemäß EU-Informationen verdient über die Hälfte der Gig-Arbeiter*innen weniger als den stündlichen Nettomindestlohn ihres jeweiligen Landes. Dies wird zusätzlich dadurch verschärft, dass gut 40% ihrer Arbeitszeit unbezahlt ist, weil sie z.B. auf neue Aufträge warten, Inserate durchgehen oder mit administrativen Tätigkeiten beschäftigt sind.
Nichtsdestotrotz kann daraus nicht geschlussfolgert werden, dass alle Gig-Arbeiter*innen grundsätzlich prekär beschäftigt sind. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal ist dabei die Freiwilligkeit der Beschäftigungsform: Hat sich jemand aus freien Stücken dazu entschieden als Freelancer*in zu arbeiten und könnte problemlos eine feste Anstellung finden? Oder handelt es sich bei der Beschäftigung um eine Zweit- oder gar Drittbeschäftigung, um den Lebensunterhalt zu sichern?
Politische Initiativen zur Regulierung der Gig Economy
Nicht zuletzt aufgrund medienwirksamer Streiks von Gig-Arbeiter*innen und wichtigen Gerichtsverfahren zum Beschäftigungsstatus ist seit einiger Zeit auch die Politik auf die Gig Economy und einen möglichen Regulierungsbedarf aufmerksam geworden – insbesondere die Europäische Union. Bereits 2018 berieten die Arbeits- und Sozialminister*innen der EU-Mitgliedsstaaten über den Zugang von Gig-Arbeiter*innen zu den Sozialsystemen und beauftragten die Kommission damit, mögliche Gesetzesinitiativen zu prüfen. Im Dezember 2023 legten der Rat und das Parlament dann einen gemeinsamen Vorschlag für eine „Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Plattformbeschäftigte“ vor, der aktuell noch beraten wird. Der Vorschlag enthält zwei wesentliche Maßnahmen. Zum einen soll die korrekte Bestimmung des Beschäftigungsstatus, also die Frage, ob Gig-Arbeiter*innen Selbstständige oder Angestellte sind, besser geregelt und kontrolliert werden. Zum anderen soll erstmalig der Einsatz algorithmischer Systeme am Arbeitsplatz reguliert werden, um mehr Transparenz darüber herzustellen, ob und wie sie zur Überwachung von Mitarbeiter*innen eingesetzt werden.
Darüber hinaus ist das Thema auch im nationalen Parteienwettbewerb vieler EU-Staaten präsent. Da die Gig Economy in Europa als sozial- und arbeitsmarktpolitische Herausforderung diskutiert und weniger auf ihre möglichen Chancen eingegangen wird, überrascht es nicht, dass sich insbesondere Parteien des linken Parteienspektrums diesem Thema zuwenden. Erste Analysen der Wahlprogramme linker Parteien zeigen, dass diese der Gig Economy äußert negativ gegenüberstehen und entsprechend einen großen Regulierungsbedarf sehen. So forderten die Grünen in ihrem Bundestagswahlprogramm 2021 beispielsweise, dass die Beweislast zum Beschäftigungsstatus umgedreht werden müsse, sodass Arbeitgeber*innen beweisen müssten, dass die Beschäftigten tatsächlich selbstständig und nicht in einem angestelltenähnlichen Verhältnis beschäftigt sind. Die LINKE pocht in ihrem Wahlprogramm außerdem darauf, dass Gig-Arbeiter*innen Betriebsräte gründen und sich gewerkschaftlich organisieren können müssen.
Außerdem kann auch eine zunehmende Mobilisierung von Gig-Arbeiter*innen in Bündnissen und Gewerkschaften beobachtet werden. Auf der einen Seite organisieren sich Gig-Arbeiter*innen dezentral in eigenen Initiativen wie „Liefern am Limit“, eigenen Gewerkschaften oder organisieren Streiks. Auf der anderen Seite greifen auch die klassischen Gewerkschaften wie ver.di oder IG Metall das Thema immer häufiger auf und adressieren damit die Gig-Arbeiter*innen als neue Mitgliederzielgruppe. Die IG Metall hat beispielsweise eine Ombudsstelle für Gig-Arbeiter*innen eingerichtet und unterstützt Klagen gegen Plattformfirmen.
Die Zukunft der Arbeit – oder: Warum wir uns für die Gig Economy interessieren sollten
Abschließend kann man sich fragen, warum wir uns als Politikwissenschaft und Gesellschaft für die Gig Economy interessieren sollten. Hierfür sind vor allem zwei Überlegungen relevant. Zum einen ist das das rasante Wachstum der Gig Economy und damit die zunehmende Relevanz von Fragen des Arbeitnehmerschutzes, der Arbeitsbedingungen und der sozialen Absicherung von Gig-Arbeiter*innen. Zum anderen kann bereits jetzt argumentiert werden, dass die Gig Economy exemplarisch für eine flexible Form des Arbeitens der Zukunft steht. Insbesondere in Zeiten der Dienstleistungsgesellschaft wird die Gig Economy weiter an Relevanz gewinnen und damit klassische Arbeitsmodelle in Frage stellen. Es muss folglich davon ausgegangen werden, dass das Thema vermehrt Eingang in den (partei-)politischen Diskurs finden wird. Es bleibt daher spannend abzuwarten, wie dies den Parteienwettbewerb und das politische Framing der Gig Economy verändern wird.
Literatur
Bündnis 90/Die Grünen (2021): Deutschland. Alles ist drin. Bundestagswahlprogramm 2021. https://www.gruene.de/artikel/wahlprogramm-zur-bundestagswahl-2021
Degner, Anne; Kocher, Eva (2018): Arbeitskämpfe in der „Gig-Economy“? Die Protestbewegungen der Foodora- und Deliveroo-„Riders“ und Rechtsfragen ihrer kollektiven Selbstorganisation. In: KJ Kritische Justiz 51(3), S. 247-265. DOI: 10.5771/0023-4834-2018-3-247
Die LINKE (2021): Zeit zu handeln! Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit. Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2021. https://btw2021.die-linke.de/wahlprogramm-2021/
Europäische Kommission (13.12.2023): Kommission begrüßt politische Einigung über bessere Arbeitsbedingungen für Plattformbeschäftigte. Pressemitteilung IP/23/6586. https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_23_6586
Generalsekretariat des Rats der Europäischen Union (2024): Infografik – Im Fokus: Arbeit über digitale Plattformen in der EU. https://www.consilium.europa.eu/de/infographics/digital-platform-workers/
Generalsekretariat des Rats der Europäischen Union (2022): Infografik – Die Plattformwirtschaft in der EU. https://www.consilium.europa.eu/de/infographics/platform-economy/