Immer wieder sieht man statistische Karten Deutschlands, auf denen sich auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch die Grenzen der ehemaligen DDR abzeichnen: Ob beim Durchschnittseinkommen und den Vermögen, bei Durchschnittsalter oder Migrationshintergrund der Bevölkerung, Wahlbeteiligung und Wahlergebnissen: stets wirkt es, als werfe der eiserne Vorhang noch immer seinen Schatten.
Einen ähnlichen Effekt gibt es, wenn man auf statistische Karten des Ruhrgebiets blickt, nur dass hier keine frühere Staatsgrenze, sondern eine Autobahn die Wohlstandsscheide bildet: Die A40, die das Ruhrgebiet von Moers bis Dortmund entlang einer Ost-West-Achse durchschneidet und oft als «Sozialäquator» des Ruhrgebiets bezeichnet wird.
Nördlich der A40 liegen die Städte der Emscher-Schiene Herne, Gelsenkirchen und Oberhausen, sowie die nördlichen Stadtteile von Dortmund, Bochum, Essen und Duisburg. Südlich liegen Mülheim und die südlichen Stadtteile der genannten Städte der Ruhrschiene. Oder anders formuliert: südlich liegt der wirtschaftlich wohlhabende Teil des Ruhrgebiets, nördlich der wirtschaftlich schwache.
Besonders dramatisch ist dieses Nord-Süd-Gefälle in Essen: Beispielsweise lag das Medianeinkommen 2022 im nördlichen Essener Stadtbezirk V (Karnap, Altenessen, Vogelheim) bei 3317€, im südlichen Stadtbezirk IX (Bredeney, Werden, Kettwig) hingegen bei 4866€. Im Stadtbezirk V bezogen 22,4% der Bevölkerung Grundsicherung für Arbeitsuchende, im Stadtbezirk IX gerade einmal 3,1%. Und während im Stadtbezirk V 33% der Grundschulabsolventen an ein Gymnasium wechselten, waren es im Stadtbezirk IX genau 80% (sic!)
Dem Gefälle bei Einkommen und Bildungskarrieren entspricht ein ebenso deutlicher politischer Gegensatz. So gehört der südliche Stadtbezirk IX zum Bundestagswahlkreis Essen I, dem einzigen Wahlkreis im gesamten Ruhrgebiet, der häufig von der CDU gewonnen wird. 2021 erzielte die AfD hier gerade einmal 5,5% der Zweitstimmen. Dagegen zählt der nördliche Stadtbezirk V zum Bundestagswahlkreis Essen II, in dem der AfD-Anteil mit 11,0% genau doppelt so hoch war. Damit war dies der drittstärkste Wahlkreis der AfD in Nordrhein-Westfalen, nach den – ebenfalls nördlich der A40 gelegenen – Wahlkreisen Gelsenkirchen und Duisburg II.
Die A40 trennt also tatsächlich zwei soziale Welten, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Wie kommt es dazu? Die Autobahn selbst ist nicht die Ursache: Sie verläuft entlang des Sozialäquators, aber sie erzeugt ihn nicht. Stattdessen sind seine Ursachen viel älter als die A40. Wie fast alles im Ruhrgebiet haben sie mit der Geschichte des Bergbaus zu tun.
Die heutige Struktur des Ruhrgebiets – baulich, soziologisch, politisch – ist eine direkte Folge seiner Geologie, und zwar konkret der Lage der Kohleflöze. Die Kohle liegt nämlich im Süden des Ruhrgebiets sehr viel näher an der Oberfläche als im Norden. Deshalb begannen der Bergbau und die Industrialisierung des Ruhrgebiets im Süden, wie man heute etwa noch im Wittener Muttental eindrucksvoll erleben kann.
Im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts folgten Bergbau und Fabriken der Kohle dann Stück für Stück nach Norden – die sogenannte Nordwanderung. Dabei veränderte sich nicht einfach der Ort der Industrie, sondern auch ihre Struktur: Im Norden wurden immer größere Zechen gebaut, die mit immer größeren Belegschaften immer größere Mengen Kohle in immer größerer Tiefe abbauten. So beschäftigten die älteren Zechen im südlichen Ruhrgebiet höchstens einige Hundert Mitarbeiter. Die jüngeren Bergwerke im nördlichen Ruhrgebiet, wie die Weltkulturerbezeche Zollverein, beschäftigten dagegen zwischen 5.000 und 10.000 Mitarbeiter. Diese Anlagen benötigten also nicht nur selbst viel mehr Platz, in ihrem Umfeld entstanden auch große Arbeiterviertel, die die bauliche Struktur, und damit letztlich die Sozialstruktur der neu entstehenden Stadtviertel noch heute prägen.
Die dauerhaften Effekte der Industrialisierung haben aber nicht nur mit ihrem unterschiedlichen Beginn, sondern auch mit ihrem unterschiedlichen Ende zu tun: Denn die Kehrseite der beschriebenen Entwicklung war, dass auch die Deindustrialisierung und das Zechensterben im Süden des Ruhrgebiets viel früher einsetzten und abgeschlossen waren als im Norden ein: Die letzte Bochumer Zeche schloss bereits 1973, die letzte Zeche in Gelsenkirchen erst im Jahr 2000, Prosper-Haniel in Bottrop als letzte deutsche Steinkohlenzeche 2018. Auch das trug dazu bei, dass der Strukturwandel zur Dienstleistungsökonomie im Süden besser gelang, was heute wieder in der Sozialstruktur sichtbar wird.
Die heutige politische Struktur des Ruhrgebiets hat also Wurzeln, die tief in der Geschichte und noch viel tiefer in der Natur liegen. Das ist keineswegs ein Einzelfall: So gibt es in vielen europäischen Städten noch heute ein Ost-West-Gefälle im Wahlverhalten, das ein Ergebnis der Windrichtung ist: Weil der Wind vornehmlich aus Westen weht, entstanden die Arbeiterviertel während der Industrialisierung vor allem im Osten (Berlin Friedrichshain oder das Londoner East End), während wohlhabende Stadtteile wie Charlottenburg oder Chelsea im Westen entstanden. Die Struktur des Ruhrgebiets ist insofern ganz ähnlich, nur wird sie nicht vom Wind, sondern von der Kohle geprägt.
Zum Weiterlesen
Steinberg, H.G. (1985): Das Ruhrgebiet im 19. und 20. Jahrhundert: ein Verdichtungsraum im Wandel. Selbstverlag der Geographischen Komission für Westfalen.
Heblich, S., Trew, A., & Zylberberg, Y. (2021). East-side story: Historical pollution and persistent neighborhood sorting. Journal of Political Economy, 129(5), 1508-1552.
Schräpler, J.P., Jeworutzki, S., Butzin, B., Terpoorten, T., Goebel, J., Wagner, G. (2017): Wege zur Metropole Ruhr. Ruhr-Universität Bochum. Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung (ZEFIR)