Einer für alle, alle für einen? Über die Struktur grenzüberschreitender Solidarität in Europa

Von Patrick Clasen

Europäische Solidarität ist einer der Grundpfeiler der europäischen Integration. Die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern ist gemäß Artikel 2 des EU-Vertrags ein erklärtes Ziel der Europäischen Union. Aber genießt jedes EU-Land das gleiche Niveau an Solidarität, sozusagen qua Mitgliedschaft, oder ist es so, dass manche Mitgliedstaaten weniger Solidarität bekommen als andere? 

In meiner Studie „Solidarity on a divided continent: Perceptions of ‘centre’ and ‘periphery’ determine European citizens’ willingness to help other EU countries“, die nun in der wissenschaftlichen Zeitschrift European Union Politics erschienen ist, argumentiere ich, dass Menschen die EU gedanklich in Zentrum und Peripherie aufteilen. Zentrumsländer sind dabei jene Länder, die schon lange in der EU sind, wohlhabend sind und eher im Nordwesten der EU liegen. In der Peripherie sind jene Länder, die erst vor Kurzem der EU beigetreten sind oder in der Finanzkrise von der finanziellen Hilfsstellung anderer Mitgliedstaaten abhängig geworden sind. Periphere Länder sind in aller Regel weniger wohlhabend.

Die zentrale Annahme ist, dass dieser Graben zwischen Zentrum und Peripherie die Solidaritätseinstellungen von Menschen strukturiert. Diese gedankliche Unterteilung in Zentrum und Peripherie führt dazu, dass Menschen eher jenen Ländern helfen wollen, die sie als Teil ihres ‚Lagers‘ wahrnehmen. Konkret bedeutet das, dass Menschen aus zentralen Ländern eher bereit sind, ebenfalls zentralen Ländern zu helfen. Umgekehrt sind Menschen aus peripheren Ländern eher bereit, anderen peripheren Ländern zu helfen.

In der Studie greife ich auf Umfragedaten vom European University Institute und YouGov zurück, die in 13 EU-Ländern in 2020 und 2021 erhoben worden sind. Dabei wurde jeder Befragte für neun zufällig ausgewählte EU-Länder gefragt, ob er oder sie der Meinung ist, dass das eigene Land diesem Land im Falle einer wirtschaftlichen Krise helfen sollte. Befragte haben hier also die Möglichkeit, sich solidarisch mit einem Land X zu zeigen, aber Hilfe gegenüber Land Y zu verweigern. So kann ich messen, welchen Effekt das konkrete Empfängerland und seine Charakteristika auf die Bereitschaft von Menschen hat, sich solidarisch zu zeigen.

Abbildung 1. Bereitschaft zur Solidarität der Befragten in Deutschland.

In der Analyse bestätigt sich die Annahme, dass die Bereitschaft von Menschen aus Zentrumsländern geringer ist, peripheren Ländern zu helfen als anderen zentralen Ländern. Beispielsweise geben etwa 77 Prozent der Befragten in Deutschland (einem Zentrumsland) an, den Niederlanden (einem anderen Zentrumsland) im Falle einer Krise finanziell helfen zu wollen. Demgegenüber ist die Bereitschaft der Deutschen, Polen (einem Land der Peripherie; 56 Prozent) oder Griechenland (einem weiteren Land der Peripherie; 62 Prozent) zu helfen, deutlich geringer. Abbildung 1 zeigt kartografisch, wie die Solidarität der Deutschen mit anderen EU-Ländern verteilt ist. Zwar findet sich für jedes Land eine solidarische Mehrheit der Deutschen, aber es zeigen sich Unterschiede. Dabei wird deutlich, dass die Deutschen zwischen EU- Ländern aus dem Westen und jenen aus Zentral- und Osteuropa differenzieren. Mit der Ausnahme von Spanien erhalten auch Länder aus dem südlichen Europa tendenziell weniger Solidarität von den deutschen Befragten.

Die hier für Deutschland exemplarisch aufgezeigte Struktur von Solidaritätseinstellungen lässt sich auch für andere Zentrumsländer und, mit umgekehrten Vorzeichen, für periphere Länder zeigen. Der Befund lässt sich nicht allein durch kulturelle oder räumliche Nähe oder unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung zwischen den Ländern erklären – sondern eben auch durch eine gedankliche Unterteilung von EU-Ländern in Zentrum und Peripherie.

Wenngleich es in beide Richtungen funktioniert, ist es bei Menschen aus Zentrumsländern stärker ausgeprägt. Das legt den Schluss nahe, dass Menschen in den ‚alten‘ EU-Mitgliedstaaten neuzugekommenen Ländern eine Mitgliedschaft zweiter Klasse in der europäischen Solidargemeinschaft angedeihen.

EU-Politik muss es daher als Aufgabe wahrnehmen, die Kohäsion zwischen den Ländern zu stärken. Zwar haben zentral- und osteuropäische Länder wirtschaftlich aufgeholt, und südeuropäische Länder haben sich von der Finanzkrise erholt, aber das Wohlfahrtsgefälle zwischen den Mitgliedstaaten ist stabil. Auch die institutionelle Differenzierung – also etwa der Umstand, dass Rumänien auch 17 Jahre nach seinem EU-Beitritt nicht Teil des Schengen-Raums ist – trägt vermutlich zu einem Denken über ein Zwei-Klassen-Europa bei, und schadet dem Gedanken europäischer Solidarität.

Literaturhinweise:

Afonso, A. and S. Negash (2023). „Selective European Solidarity: How Recipient Country Characteristics Shape Support for International Redistribution in Europe.“ JCMS: Journal of Common Market Studies.

Börzel, T. A. and J. Langbein (2019). „Core–periphery disparities in Europe: is there a link between political and economic divergence?“ West European Politics 42(5): 941-964.

Cicchi, L., et al. (2020). EU solidarity in times of Covid-19, European University Institute.

Clasen (2024). Solidarity on a divided continent: Perceptions of ‘centre’ and ‘periphery’ determine European citizens’ willingness to help other EU countries.” European Union Politics

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