Im Grunde weiß doch jede*r, was Rassismus ist, oder? Und wenn man nicht weiß, was es ist, so weiß man doch mindestens, dass man selbst kein*e Rassist*in ist oder zumindest kein*e sein möchte. Auf sogenannte Rassismus-Eklats wie etwa auf Sylt im Mai dieses Jahres folgen – selbstverständlich in Abhängigkeit der politischen Gesinnung des persönlichen Umfeldes – stets Entsetzen im Privaten sowie ein breites Medienecho in der Öffentlichkeit. Zur Erinnerung: In einem Sylter Lokal hatten junge, augenscheinlich weiße deutsche Menschen beim Feiern den Text eines 90er Jahre Hits um rassistische Parolen ergänzt.
Ähnlich dem Ereignis auf Sylt zeigt sich jedoch, dass diese ehrenwerte Ziele, die dem Wunsch nach einer Welt ohne Rassismus erwachsen, nicht zwingend der Realität entsprechen. Kurz vor Beginn der EURO 2024 etwa wurden Ergebnisse einer Umfrage des WDR veröffentlicht, laut der 21 Prozent der Befragten angaben, dass sie es besser fänden, wenn mehr Spieler mit weißer Hautfarbe in der deutschen Nationalmannschaft spielen würden. Dieses Ergebnis reiht sich ein in eine Reihe weiterer national und international vergleichender Studien, die das Bild einer fortwährenden Existenz von Rassismus in persönlichen Einstellungen und individuellen Lebenserfahrungen bestätigen. Es stellt sich daher die Frage, ob wirklich jede*r weiß, was Rassismus ist und ob Menschen, die versichern, keine Rassist*innen zu sein, nicht doch in gewissem Maße bestimmten Rassismen aufgelegen sind.
Rassismus als Ideologie
Historisch versteht man unter Rassismus zunächst die Klassifizierung von Menschen in verschiedene Rassen, ähnlich dem Tierreich. Diese Klassifizierung erfolgt zunächst anhand äußerer und sichtbarer Merkmale und geht mit der Zuweisung entweder bestimmter Fähigkeiten oder Charakteristika dieser vermeintlichen „Menschenrassen“ einher. Auf dieser Grundlage erlaubte es dieser sogenannte „biologische“ oder „old-fashioned“ Rassismus, Menschen in einer bewertenden Reihenfolge zueinander ins Verhältnis zu setzen.
Tatsächlich ist das Konzept der Rasse jedoch ein soziales Konstrukt ohne Bedeutung für den menschlichen Kontext. Die genetische Übereinstimmung zwischen Menschen verschiedener Ethnien oder unterschiedlicher geografischer Herkunft unterscheidet sich nicht wesentlich mehr, als sie es bei Menschen ähnlicher bzw. identischer Ethnizität tun. Mit anderen Worten gibt es zwar Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Ethnie, die Größe dieser Unterschiede findet sich jedoch auch bei Menschen innerhalb derselben Ethnie und kann somit nicht auf diese zurückgeführt werden. Vor diesem Hintergrund ist das Ergebnis aus dem Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa), wonach 49 % der deutschen Bevölkerung der Ansicht ist, dass es menschliche „Rassen“ gibt und bestimmte kulturbedingte Rangunterschiede existieren, besonders spannend.
Doch woher stammt diese Vorstellung? Die Überführung des Rassebegriffs auf Menschen erfolgte insbesondere zur Zeit des westlichen Kolonialismus und des Transatlantischen Sklavenhandels. Die Kategorisierung erlaubte es Menschen als primitiv und unzivilisiert darzustellen, um die systematische Unterdrückung und Ausbeutung von als „nicht-weiß“ klassifizierten Menschen zu legitimieren, während zugleich die selektive Ungleichbehandlung von Menschen der eigentlich gleichen Gattung Mensch ermöglicht wurde. Einen grausamen Höhepunkt der Rassifizierung von Menschen auf deutschem Boden erlebte Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus mit dem Erlass der Nürnberger Gesetze und dem darauffolgenden Holocaust.
Rassismus als strukturelles Phänomen
Auch wenn es im wissenschaftlichen Diskurs um die Entstehung und historische Entwicklung des Rassismus-Begriffs in Deutschland Uneinigkeit gibt, stellt die Verbindung des sozialen Konstruktes der Rasse mit dem Ziel der Entmenschlichung ganzer Bevölkerungsgruppen gepaart mit einer nachweislich fortwährenden Ungleichbehandlung rassifizierter Gruppen eine wichtige Beobachtung dar. Empirisch weisen gewisse Formen von Ungleichbehandlung und Diskriminierung folglich strukturelle Komponenten auf. Es ist daher zu kurz gefasst, Rassismus lediglich als etwas zu verstehen, was Individuen denken und fühlen. Vielmehr muss Rassismus als Strukturmerkmal verstanden werden, das wiederum individuelles Handeln und Denken beeinflusst. Dieser strukturelle Einfluss manifestiert sich etwa in ungleichen Zugängen zum Arbeits- und Wohnungsmarkt, ungleichen Zugängen und Verweildauern in Bildungsmärkten oder in der ungleichen Behandlung im Gesundheitssektor, um nur drei Beispiele zu nennen.
Dies lässt sich am Fußball beispielhaft verdeutlichen: wie bei jeder Sportart sollte die Annahme gelten, dass der Sport meritokratischen Prinzipien folgt, sprich, dass einzig die Leistung der Spieler:innen maßgebend für ihre Bewertung ist. Dennoch erleben rassifizierte Menschen regelmäßig rassistische Anfeindungen, wenn ihre Leistungen nicht bestimmten Erwartungen entsprechen. So berichten zwei Schwarze Nationalspieler der deutschen U21 Fußballnationalmannschaft, rassistische Anfeindungen erlebt zu haben, nachdem sie bei der Europameisterschaft Elfmeter verschossen haben. Strukturell berichten Spieler von nicht hinreichenden Ahndungsstrategien rassistischer Beleidigungen durch die Verbände.
Rassismus als Struktur hat überdies die Wirkung, Rassismen zu reproduzieren und damit gewissermaßen neu zu definieren. Dies zeigt sich darin, dass sich rassistische Grundvorstellungen bis in die heutige Zeit sowohl explizit z.B. in Form offen ausgelebten rassistischen Einstellungen und Handlungen als auch implizit etwa in Form unterbewusster Gedankenmuster oder dem Fortbestehen rassistischer Strukturen manifestieren. Im Sport bestehen Bilder bestimmter Typen von Athleten in individuellen Vorstellungen fort und finden Bestätigung in z.B. der Besetzung bestimmter Spielerpositionen. In Teamsportarten wird dieses Phänomen zum Beispiel unter dem Begriff des „Racist stacking“ analysiert. Dabei handelt es sich um eine Überrepräsentation Schwarzer Sportler:innen auf körperbetonten und ausführenden Positionen im Vergleich zu überwiegend weißen Sportler:innen, strategischen und führenden Positionen.
Rassismus: Ein Thema für die Politikwissenschaft?
Warum sollte sich die Politikwissenschaft als sozialwissenschaftliche Teildisziplin für Rassismus interessieren? Man könnte annehmen, dass es sich vielmehr um ein Thema handelt, das Disziplinen wie der Soziologie, den Bildungs- und Geschichtswissenschaften vorbestimmt sein sollte. So verwundert es nicht, dass viele wissenschaftliche Beiträge, die sich mit diesem Thema befassen, vorwiegend durch Vertreter:innen ebendieser Disziplinen erfolgen.
Aus einer demokratietheoretischen Sicht ist das Streben nach (demokratischer) Teilhabe egalitär. Die Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen ist folglich zutiefst undemokratisch und die Ursachen dafür und Auswirkungen dessen normativ mindestens ihre Erforschung wert. Versteht man überdies die Politikwissenschaft als Wissenschaft, die sich mit der Wirkung von Macht und der Verteilung knapper Ressourcen befasst, so muss Rassismus als Manifestation eines Machtgefüges verstanden werden, die sich reproduziert und somit realpolitisch manifestiert.
Literatur
Alexopoulou, Maria (2023): Rassismus als Leerstelle der deutschen Zeitgeschichte. In: Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (Hg.) (2023): Rassismusforschung 1. Theoretische und interdisziplinäre Perspektiven. Bielefeld: Transcript Verlag, S. 23-56.
Auspurg, Katrin; Hinz, Thomas (2017): Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt. In: Albert Scherr, Aladin el Mafaalani und Emine Gökçen Yüksel (Hg.): Handbuch Diskriminierung. Wiesbaden: Springer VS, S. 387–406
Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) (2022): Rassistische Realitäten: Wie setzt sich Deutschland mit Rassismus auseinander? Auftaktstudie zum Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa), Berlin.
Nobis, Tina; Lazaridou, Felicia Boma (2022): Racist Stacking in Professional Soccer in Germany. International Review for the Sociology of Sport 58 (1).
Rommelspacher, Birgit (2011): Was ist eigentlich Rassismus? In: Claus Melter und Paul Mecheril (Hg.) (2011): Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und -forschung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, S. 25–38.