Dann muss man die Leute eben zu ihrem Glück zwingen! Herbert Tingstens Buch „Political Behavior“ von 1937 und seine Bedeutung für die Debatte um die soziale Verzerrung der Wahlbeteiligung heute
Von Florian Rabuza
Niedrige Wahlbeteiligung geht mit sozial verzerrter, also ungleicher, Wahlbeteiligung einher. Dies ist die Hauptaussage von Herbert Tingstens Klassiker der Wahlforschung „Political Behavior“ von 1937. In diesem Blogbeitrag soll diese Behauptung im Lichte der heutigen empirischen Forschung neu bewertet werden. Dabei wird insbesondere die Einführung von Wahlpflicht als Mittel zur Bekämpfung politischer Ungleichheit durch niedrige Wahlbeteiligung kritisch diskutiert.
Die Politikwissenschaft ist eine relativ junge wissenschaftliche Disziplin. Obwohl sie mittlerweile ein beträchtliches Wissenskorpus erzeugt hat, sind Erkenntnisse von universeller Reichweite, die also unabhängig von Ort und Zeit gültig sind, rar. Tingstens sog. Law of Dispersion erhebt den Anspruch eine der seltenen Ausnahmen zu sein und sein Name macht klar, dass es sich als Gesetzmäßigkeit des politischen Lebens verstanden wissen will. In seinem Buch „Political Behavior“ von 1937 legt Tingsten seine Theorie dar. Die wesentliche Aussage lässt sich wie folgt zusammenfassen: Je niedriger die Wahlbeteiligung ist, desto stärker ist die soziale Verzerrung der Wahlbeteiligung zugunsten der Angehörigen höherer Statusgruppen, die sich vor allem durch ihre Position in der sozialen Schichtung der Gesellschaft widerspiegeln. Tingsten betont in diesem Zusmamenhang vor allem den elektoralen Effekt der Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse. Die Partizipationsrate dieser Bevölkerungsgruppe ist bei niedriger Wahlbeteiligung viel geringer als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung Soziale Verzerrung bedeutet demnach die politische Überrepräsentation gewisser Gruppen, da sie überproportional häufig an Wahlen teilnehmen. Dies kann dann auch in eine Verzerrung der Responsivität münden, wenn die Politik den Interessen der überrepräsentierten sozialen Gruppen in höherem Maße Rechnung trägt.
Tingsten demonstriert das mit Wahldaten aus Ländern wie Deutschland, England, Österreich, Schweden und der Schweiz. Das herausragende Verdienst von Tingstens Werk ist sicher, dass es als eine der ersten modernen Wahlstudien gesehen werden muss, die auf einer breiten Datengrundlage und mit statistischen Verfahren arbeitet. Beim Lesen hält man manchmal inne und ist erstaunt über die Aktualität des eben Gelesenen. Auch das fachliche Vokabular lässt kaum erahnen, dass wir es mit einem Text zu tun haben, der nun bald 80 Jahre alt ist.
Die Argumentation ist intuitiv gut nachvollziehbar und klingt sehr plausibel. Ob es allerdings angemessen ist, der Theorie Gesetzesrang zuzugestehen, ist eine empirische Frage, die die Forschung erstaunlicher Weise nur relativ selten getestet hat. Der niederländisch-amerikanische Politikwissenschaftler Arend Lijphart argumentiert z.B. in seiner stark rezipierten Presidential Address, die er in seiner damaligen Funktion als Vorsitzender der American Politial Science Association 1996 (publiziert 1997) gehalten hat, dass die Einführung einer allgemeinen Wahlpflicht die Lösung des Problems sozialer Verzerrung durch geringe Wahlbeteiligung sei.
„Low voter turnout means unequal and socioeconomically biased turnout. This pattern is so clear, strong, and well known in the United States that it does not need to be belabored further. […] There is, however, abundant evidence of the same class bias, albeit usually not as strong, in other democracies.“ (Lijphart 1997: 2).
Lijphart spricht sich stark für institutionelle Reformen aus, die die Etablierung einer Wahlpflicht zum Gegenstand haben und betont diese Notwendigkeit insbesondere in Ländern mit einer generell geringen Wahlbeteiligung, wie z.B. die Vereinigten Staaten. Mit dieser Forderung setzt Lijphart natürlich voraus, dass Tingstens Theorie Gültigkeit hat. Der nächste Abschnitt widmet sich genau dieser Frage.
Tingstens Law of Dispersion im Lichte der aktuellen Forschung
Jüngere Arbeiten, die sich dem Thema Wahlbeteiligung und politischer Ungleichheit annehmen, lassen zumindest Zweifel an der universellen Reichweite von Tingstens Gesetz aufkommen, da es Ergebnisse gibt, die es bestätigt sehen und andere, die Tingstens Theorie nur eingeschränkt unterstützen. Richard Sinnott und Christopher Achen zeigen mit amerikanischen und europäischen Daten, dass von Universalität kaum gesprochen werden kann und dass Tingstens Theorie sich vornehmlich auf die jüngeren unerfahrenen Wähler anwenden lässt. Persson und Kollegen hingegen analysieren Daten aus Schweden und finden empirische Evidenz, die den Annahmen von Tingstens Theorie entspricht.
Die Abbildung stellt eine Annäherung an das Problem dar, indem sie den Zusammenhang zwischen sozialer Verzerrung der Wahlbeteiligung durch formale Bildung und der Höhe der Wahlbeteiligung veranschaulicht. Soziale Verzerrung ist dabei gemessen als Stärke des Bildungseffekts in einem Land. Je stärker der Effekt formaler Bildung ist, desto höher ist die soziale Verzerrung der Wahlbeteiligung, die durch Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Bildungsgruppen resultiert. Technisch gesprochen kann man den Effekt als Veränderung der Wahrscheinlichkeit eines Individuums wählen zu gehen in Prozentpunkten interpretieren, wenn dieses Individuum ein zusätzliches Jahr formaler Bildung erwirbt. Je stärker sich diese Wahrscheinlichkeit verändert, desto stärker ist der Einfluss von Bildung auf die individuelle Wahlbeteiligung.
(Zum Vergößern Grafik anklicken)
- Die Abbildung zeigt den Zusammenhang zwischen der Höhe der Wahlbeteiligung und dem durchshcnittlichen MArginaleffekt formaler Bildung. Der durchschnittliche Marginaleffekt entspricht der durchschnittlichen Erhöhung der vorhergesagten Wahrscheinlichkeit einer Wählerin pro zusätzlichem Bildungsjahr. Der Effekt ist in Dezimalstellen skaliert, so dass z.B. der Wert 0,05 auf der Y-Achse einer um 5 Prozentpunkte erhöhten Wahrscheinlichkeit zu wählen pro zusätzlichem Bildungsjahr entspricht. Die Daten entstammen dem European Social Suvrey (Wellen 1 bis 5).
Die Richtung des Zusammenhangs fasst die Gerade zusammen, die von links oben nach rechts unten abnimmt. Das bedeutet, dass der Zusammenhang tatsächlich negativ ist, wie es Tingstens Gesetz annimmt. Der Zusammenhang ist allerdings ziemlich schwach ausgeprägt, was sich an der flachen Steigung der Geraden erkennen lässt. Der Zusammenhang ist also zumindest unter den untersuchten europäischen Ländern nicht sonderlich stark ausgeprägt. Wenn man noch genauer hinsieht, spricht sogar einiges dafür, dass der Zusammenhang nicht linearer Natur ist, sondern zunächst ansteigt, um dann bei mittlerer Wahlbeteiligung wieder abzufallen. Dies würde bedeuten, dass der die soziale Verzerrung durch die unterschiedliche Wahlbeteiligung zwischen den Bildungsgruppen bei mittlerer Wahlbeteiligung am größten ist.
Wahlpflicht als ultimatives Heilmittel gegen sozial verzerrte politische Teilhabe?
Welche Empfehlungen kann die Politikwissenschaft auf Grundlage ihrer Erkenntnisse zur sozialen Verzerrung der politischen Teilhabe an die Politik richten? Sollte man z.B. Lijpharts Forderung nach der Einführung von Wahlpflicht Folge leisten und die Menschen zu ihrem politischen Glück zwingen? Die Antwort auf diese Fragen ist schwierig. Zunächst einmal scheint die empirische Evidenz für Tingstens Gesetz inkonsistent zu sein. Auch wenn Studien zeigen, dass es Muster politischer Ungleichheit existieren, die dem sog. Gesetz entsprechen, scheint es zumindest Kontexte zu geben, wo das Gesetz nicht uneingeschränkt gültig ist. Dies spricht gegen institutionelle Reformen, die nicht auf wohlinformierter Grundlage, d.h. auf Grundlage empirischer Datenanalysen, beruhen, die den Nachwies erbracht haben, dass die Wahlbeteiligung sozial verzerrt ist. Generell ist es nämlich durchaus möglich, dass die Wahlbeteiligung niedrig ist und trotzdem nur in geringem Maße sozial verzerrt.
Zweitens erwachsen normative Probleme aus der Reformierung politisch-institutioneller Systeme. Die Einführung von Wahlpflicht stellt einen radikalen Eingriff in die politische Selbstbestimmung der Menschen dar. In Zeiten zunehmender Individualisierung wäre die Akzeptanz solcher Reformen sicher gering. Dies lässt die Frage aufkommen, ob es überhaupt eine Koalition aus parlamentarischen Parteien finden ließen, die bereit sind das Risiko einzugehen den Status quo, der ihnen ja offensichtlich zu Pass kommt, zu ändern.
Drittens zeigen Studien aus Ländern in denen Wahlpflicht herrscht, dass ihr Effekt auf die Wahlbeteiligung auch sehr gering sein kann. Dies hängt vor allem damit zusammen, ob die Nichteinhaltung stark sanktioniert ist oder nicht. Dies geschieht vor allem über die Erhebung von Bußgeldern, kann aber auch wie in Thailand den Verlust des aktiven Wahlrechts zur Folge haben. Australische Verhältnisse mit Wahlbeteiligungsraten bei 90% sind auch mit Wahlpflicht kaum zu erreichen, wenn sich diese nicht in einem längeren Prozess zum Bestandteil einer politischen Kultur geworden ist.
Aus den oben genannten Gründen halte ich eine Einführung von Wahlpflicht nicht unbedingt für das Mittel der Wahl, um politischer Ungleichheit zu begegnen. Eine interessante Alternative ohne Zwangscharakter, der normativ allerdings auch nicht unproblematisch ist, stellt die Einführung von Wahllotterien dar. Der Anreiz zur Wahl zu gehen soll durch die Möglichkeit etwas gewinnen zu können erhöht werden. Allerdings ist auch fraglich, ob hierdurch wirklich eine substantielle Erhöhung der Wahlbeteiligung erreicht werden kann. Der beste Weg um ungleicher Wahlbeteiligung zu begegnen besteht darin die Wahlbeteiligung auf ein allgemein sehr hohes Niveau zu heben. Ob das gelingen kann ist in vielen Ländern wohl eher pessimistisch zu sehen.
Verwendete Quellen:
Tingsten Herbert (1937): Political Behavior. London: P.S. King.
Weitere Quellen:
Rabuza, Florian (o.D.): Der Einfluss formaler Bildung auf politische Partizipation in Europa. Eine empirische Analyse. Dissertationsprojekt Universität Duisburg-Essen.