Der Tod der Treuen: Wie die westdeutsche Adenauer-Generation der CDU und CSU wegstirbt

Achim Goerres

Wählerinnen und Wähler scheinen hauptsächlich aufgrund ihrer Bewertungen von tagespolitischen Ereignissen und politischem Spitzenpersonal ihre bevorzugte Partei zu bestimmen. Folglich läuft es – allgemein gesprochen – je nach Tagespolitik und Personal bei manchen Parteien besser als bei anderen. Zurzeit steht die CDU/CSU relativ gut in Umfragen da. Seit der letzten Bundestagswahl, bei der sie 24,1 Prozent der Zweitstimmen erzielte, würde sie heute (14.08.23) – wenn Bundestagswahl wäre – 27 Prozent der Wählerstimmen gewinnen.

Neben dieser kurzfristigen, tagesabhängigen Dynamik gibt es aber auch langfristige, strukturelle Veränderungen, die den Erfolg von CDU und CSU beeinflussen. Eine dieser langfristigen Entwicklungen ist die Zusammensetzung der Wählerschaft, die eben auch aus bestimmten politischen Generationen besteht. Die CDU/CSU profitierte, erst in der alten Bundesrepublik und dann nach der Wiedervereinigung vor allem in den alten Bundesländern, von einer großen und treuen politischen Generation: Der Adenauer-Generation.

Die CDU/CSU profitierte von einer großen und treuen politischen Generation: der Adenauer-Generation.

Die Adenauer-Generation umfasst Geburtsjahrgänge des Deutschen Reichs und der Weimarer Republik von 1915 bis 1945.

Die unterschiedliche Demokratisierung West- und Ostdeutschlands und das zeitweise auf 21 Jahre hinaufgesetzte Mindestalter für das aktive Wahlrecht bestimmten den Zugang dieser Generation zu freien Wahlen. Die ältesten Mitglieder der Adenauer-Generation aus dem Jahr 1915 durften das erste Mal 1949 in freien demokratischen Wahlen im Alter von 34 Jahren für den Bundestag abstimmen, weswegen es die Geschichte einer westdeutschen Generation ist. Die jüngsten Mitglieder dieser Generation aus dem Jahrgang 1945 wählten – wegen des aktiven Wahlalters von 21 – bei der Bundestagswahl 1969 das erste Mal.

Diese Gruppe von Geburtsjahrgängen war groß. Bei der Bundestagswahl 1969 erreichte sie ihren zahlenmäßigen Höhepunkt: Etwa 24,6 Millionen aus 38,6 Millionen Wahlberechtigten insgesamt.

24,6 Millionen Wahlberechtigte bei der Bundestagswahl 1969.

Diese Gruppe war durch ein hohes Pflichtbewusstsein selbst in jungem Alter gekennzeichnet, was sich auf Teilnahme an Wahlen auswirkte. Durch Routine und Gewöhnung stieg die Wahlbeteiligung über den politischen Lebenslauf, wie für alle Generationen, parallel zum Alter noch weiter an.

Die Adenauer-Generation besteht seit jeher also nicht nur aus besonders vielen Wahlberechtigten, sondern auch aus vielen Wählerinnen und Wählern, die tatsächlich ihr Wahlrecht wahrnahmen.

Bei den ersten freien Wahlen 1949 war die CDU und CSU populär bei Mitgliedern dieser Generation, die mehrheitlich ihr Kreuz bei diesen Parteien machten. (Nach Umfrage-Schätzungen waren es 55 % der Adenauer-Generation, die für die CDU oder die CSU stimmten, wobei diese Schätzung mit Unsicherheit behaftet ist, weil sie auf Rückerinnerung beruht.)

Die Gründe für die hohe Popularität der CDU und CSU in der Adenauer-Generation von ihren ersten Wahlen an waren vielfältig und können wissenschaftlich nicht mehr detailgetreu nachgewiesen werden. Zentral waren sicherlich der wirtschaftliche Aufschwung und die politische Stabilität der jungen Bundesrepublik, die dem Bundeskanzler Konrad Adenauer und später in kürzerer Kanzlerschaft Ludwig Erhard und Kurt Kiesinger zugeschrieben wurden. „Dankbarkeit“ war eine zentrale Motivation für die politische Treue.

„Dankbarkeit“ war eine zentrale Motivation für die politische Treue.

Die Mitglieder der Adenauer-Generation wiesen ebenfalls einen hohen Anteil an Stammwählerinnen und –wählern auf. Die von dieser Generation in den ersten Wahlgängen gewählten Parteien hatten eine hohe Wahrscheinlichkeit, auch im späteren Leben noch treu gewählt zu werden.

Diese Stammwählerschaft war niemals absolut. Natürlich reagierten auch Mitglieder der Adenauer-Generation mit CDU/CSU-Wahlgeschichte auf kurzfristige Dynamiken, allerdings nicht in dem Ausmaß wie andere Generationen.

Bei der Bundestagswahl 2005 waren die Mitglieder der Adenauer-Generation zwischen 60 und 90 Jahre alt. Sie stellten damit den größten Teil der 60plus-Wählerschaft, welche insgesamt 20 Millionen Wahlberechtigte umfasst (darunter Wählerinnen und Wähler älter als 90 oder die in der DDR oder im Ausland aufgewachsen waren, die nicht gleichermaßen durch die Adenauer-Ära beeinflusst sein konnten). In dieser 60plus-Gruppe wählten 43,3 Prozent die CDU/CSU verglichen mit den 35,2 Prozent aller Wähler*innen.

Die CDU/CSU war 2005 noch eine mächtige Volkspartei in dieser Altersgruppe, vor allem weil die Adenauer-Generation sie treu wählte. Bis zur Bundestagswahl 2021 sank der Zuspruch zur CDU/CSU in der Gruppe der 60plus-Wählerschaft von 43,3 auf 32,8 Prozent verglichen mit dem allgemeinen Rückgang von 35,1 auf 24,1 Prozent in der gesamten Wählerschaft.

Der Rückgang der CDU/CSU-Popularität in der Gruppe der 60plus-Wählerinnen und Wähler hatte unter anderem seine Gründe im natürlichen Tod vieler Adenauer-Wählerinnen und Wähler sowie dem Aufrücken der nächsten politischen Generation in das Alter 60plus. Die aufrückende Brandt-Generation war stärker der SPD und den Grünen zugetan und gleichzeitig wechselhafter in ihren Wahlentscheidungen als die Adenauer-Generation. Damit war sie nie so eine sichere Bank für die SPD oder Grünen wie die Adenauer-Generation für die CDU/CSU.

Aufgrund der Altersgruppeneinteilung der repräsentativen Wahlstatistik können wir die Adenauer-Generation bei den Wahlen 2013 (68 bis 98 Jahre alt) und 2017 (72 bis 102 Jahre alt) noch einmal recht genau in der Gruppe der 70plus-Wählerinnen und -Wähler beobachten. 2013 und 2017 wählten 51,9 und 44,6 Prozent der 70plus-Wählerschaft die CDU/CSU. Und das im Vergleich zu 41,5 und 33,0 Prozent insgesamt.

Wir sehen also: die zahlenmäßig dominierende Adenauer-Generation in den relevanten Altersgruppen der repräsentativen Wahlstatistik blieb bis ins hohe Alter der CDU/CSU treu. Diese Treue wird es voraussichtlich auch bei der nächsten Bundestagswahl im Jahr 2025 geben. Aber dann sind die jüngsten Mitglieder der Adenauer-Generation bereits 78 Jahre alt. Der natürliche Tod vieler Menschen dieser Generation wird weiterhin absolute Stimmenverluste für die CDU/CSU mit sich bringen.

Was bedeutet der Verlust dieser großen Generation für die CDU/CSU? Das natürliche Aussterben dieser der CDU/CSU treuen Generation ist unwiederbringlich. Man kann ihn nicht aufschieben. Weiterhin gibt es keine neue „goldene“ Generation für die CDU/CSU, die wir in der Wahlforschung bisher ausmachen können. Die insgesamt stark gewachsene Wechselhaftigkeit im Wahlverhalten schließt es für alle Parteien aus, auf eine ganze Altersgruppe als treue Wählerschaft zu bauen.

Wir sehen zwar, dass einige Parteien (wie Bündnis90/Die Grünen) insbesondere unter den neuen Jungwählerinnen und –wählern stark sind, aber das bedeutet nicht, dass diese Popularität auf Jahrzehnte hin durch immer wiederholte Wahl dieser Partei zu einer generationalen Prägung führt.

Wir müssen bis auf weiteres davon ausgehen: Mit der westdeutschen Adenauer-Generation verlässt die letzte große und einer Partei treue Generation die deutsche Wählerschaft.

Für die CDU/CSU bedeutet das, dass sie heute viel stärker mit der Volatilität ihrer Wählerinnen und Wähler umgehen muss als noch vor 20 Jahren.

Quellen

Bundeswahlleiter (2022): Ergebnisse der repräsentativen Wahlstatistik, Zeitreihe seit 1953: Wahlberechtigte ohne und mit Wahlschein, Wähler/-innen und Wahlbeteiligung nach Geschlecht und Altersgruppen / Zweitstimmen nach Geschlecht und Altersgruppen in %, verfügbar unter https://www.bundeswahlleiterin.de/bundestagswahlen/2021/publikationen.html, Download 01.08.2023.

Goerres, Achim (2008): The Grey Vote: Determinants of Older Voters’ Party Choice in Britain and West Germany, Electoral Studies, 27 (2): 285-304. http://achimgoerres.de/wp-content/uploads/2018/01/Goerres-2008-Grey-Vote.pdf

Screenshot aus dem Film „Konrad Adenauer: Wir wählen die Freiheit (Videobook-Trailer #4)“ verfügbar unter https://www.youtube.com/watch?v=Bg8WH78JfmQ&t=14s

Wahlrecht.de, Sonntagsfrage Bundestagswahl, https://www.wahlrecht.de/umfragen/ Stand 14.08.2023.

2 Comments

  1. Wenn Sie noch aufs „Gendern“ verzichten würden würde dies der apostrophierten Sachlichkeit Vorscub leisten.
    Mit kollegialen Grüssen

    Prof Dr med Jürgen Peters

    1. Sehr geehrter Kollege Peters,
      als Sozialwissenschaftler ist mir eine präzise Sprache sehr wichtig. Ich habe keine stilistische Präferenz zu der Art, wie man über mehrere Gendergruppen schreibt. Wenn ich aber mehr als eine Gruppe meine, bringe ich das auch zum Ausdruck. Ob es ein Asterisk, ein Doppelpunkt oder die ausgeschriebenen Endungen sind, ist für mich nicht wichtig.
      Mit freundlichen Grüßen
      Achim Goerres

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