Demokratische Teilhabe für Nicht-EU-Ausländer:innen durch Integrationsräte?

Paul Vierus

Ein Grundprinzip von Demokratien ist es, alle von einer politischen Entscheidung Betroffenen in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. In Deutschland zeigt sich jedoch bei genauerer Betrachtung eine erhebliche Abweichung von diesem Idealbild, da Nicht-EU-Ausländer:innen weder an Kommunalwahlen noch an Landtags- oder Bundestagswahlen teilnehmen dürfen. Dies hat zur Folge, dass beispielsweise in der Stadt Essen 17,3% der Gesamtbevölkerung an keiner der genannten politischen Wahlen teilnehmen können.

Um dieses Defizit abzubauen und Nicht-EU-Ausländer:innen die Möglichkeit zur politischen Partizipation zu bieten, wurden in Teilen Deutschlands sogenannte Integrationsräte (mancherorts auch als Ausländerbeirat, Integrationsausschuss oder Integrationsbeirat bekannt) eingerichtet. Wähler:innen mit ausländischer Staatsbürgerschaft oder eingebürgerte deutsche Staatsbürger:innen wählen diese politischen Gremien, die ihre Interessen dann im Gemeinderat vertreten.

Die Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen ist jedoch häufig gering, sodass Kritiker:innen ihre Notwendigkeit und Legitimität kritisch hinterfragen. Doch was sind Integrationsräte und welche Möglichkeiten gibt es die teilweise geringe Beteiligung an ihren Wahlen zu erhöhen?

Gemeinsam mit Nicole Marx (Universität zu Köln) und Conrad Ziller (Universität Duisburg-Essen) habe ich eine Studie zu den Einflussfaktoren der Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen in Nordrhein-Westfalen (NRW) verfasst. Die Studie wurde in der Kölner Zeitschrift für Soziologie veröffentlicht und ich möchte die wichtigsten Ergebnisse im Folgenden zusammengefassen.

Was sind Integrationsräte?

In den 1970er Jahren wurden aufgrund der Migration von Gastarbeiter:innen Integrationsräte ins Leben gerufen, die sich dafür einsetzen, die Anliegen der ausländischen Bevölkerung in die kommunale Politik einzubringen. Inzwischen sind diese politischen Gremien in vier Bundesländern (Hessen, Saarland, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz) in der Kommunalverfassung verankert, wobei NRW eine Vorreiterrolle bei der Verbreitung und Institutionalisierung der Gremien einnimmt (rund ein Viertel der bundesweit 400 Integrationsräte sind in NRW angesiedelt). So ist in NRW festgelegt, dass in Kommunen mit mehr als 5000 ausländischen Einwohner:innen ein Integrationsrat eingerichtet werden muss. Ebenso muss in Kommunen ab 2000 ausländischen Einwohner:innen, in denen mindestens 200 Ausländer:innen einen Integrationsrat einfordern, ein Integrationsrat etabliert werden. Bei den letzten Integrationsratswahlen im Jahr 2020 gab es in 107 von 396 Kommunen in NRW einen Integrationsrat. Die Wahlbeteiligung ist äußerst gering und lag bei der letzten Wahl 2020 über alle Gemeinden hinweg bei 13%. Allerdings gibt es erhebliche regionale Unterschiede zwischen 5,4% in Marl bis zu 26,5% in Monheim am Rhein.

Abbildung 1: Wahlbeteiligung bei den Integrationsratswahlen 2020 in den 107 Gemeinden mit Integrationsräten in NRW. Dunklere Farbtöne symbolisieren eine höhere Wahlbeteiligung. 

Die politische Aufgabe der Integrationsräte ist, neben der Interessenvertretung der ausländischen Bevölkerung, die aktive Beratung des Gemeinderates in den Querschnittsthemen Migration und Integration. Die Integrationsräte stellen zudem die einzige institutionalisierte Form der politischen Vertretung und Teilhabe für Nicht-EU-Ausländer:innen in Deutschland dar. Allerdings ist diese konsultative Beteiligung eher als symbolisch zu bewerten, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Gremien anderer nicht-wahlberechtigter Bevölkerungsgruppen (z.B. Kinder und Jugendliche) über weitreichendere Rechte verfügen und beispielsweise Anliegen direkt in die Gemeinderäte einbringen können.

Eine Besonderheit in NRW besteht darin, dass sich die Integrationsräte aus gewählten und berufenen Mitgliedern zusammensetzen. Die gewählten Mitglieder werden durch die Integrationsratswahl bestimmt, die berufenen Mitglieder sind entsandte ordentliche Ratsmitglieder. Diese Verzahnung soll die Kommunikation zwischen dem Gremium und der Stadtverwaltung fördern. Die Gesamtzahl der Sitze in einem Integrationsrat wird von der jeweiligen Kommune festgelegt und beträgt in NRW durchschnittlich 17 Sitze.

Die Integrationsratswahlen finden in NRW seit 2004 alle fünf Jahre parallel zu den Kommunalwahlen statt. Die Zahl der Wahlberechtigten hat sich in den letzten Jahren durch Änderungen im Wahlrecht deutlich erhöht, so dass bei der letzten Wahl 14,4 % der Bevölkerung in NRW wahlberechtigt waren, was ca. 2,86 Mio. Menschen entspricht. Derzeit sind in NRW folgende Bevölkerungsgruppen zur Teilnahme an den Integrationsratswahlen berechtigt: Ausländer:innen, Staatenlose, Eingebürgerte, Deutsche mit einer zweiten ausländischen Staatsangehörigkeit sowie Deutsche mit ausländischen Eltern, die nach dem 01.01.2000 in Deutschland geboren wurden und somit unter weiteren Umständen die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen.

Das passive Wahlrecht, also das Recht, bei einer Integrationsratswahl als Kandidat:in anzutreten, ist weiter gefasst, so dass sich jede volljährige Person zur Wahl stellen kann. Gängige Wahlvorschläge sind Listen und Einzelkandidaturen. Vor allem in Ballungsgebieten ist zudem eine zunehmende Beteiligung der etablierten Bundesparteien zu beobachten. Bei der letzten Integrationsratswahl in der Stadt Essen kandidierten beispielsweise Vertreter:innen aller im Stadtrat vertretenen Parteien, einschließlich der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), der Christlich-Demokratischen Union (CDU), der Alternative für Deutschland (AfD), der Parteien Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen (Grüne). Bei der Wahl 2020 trat in 37 der 107 Kommunen mit Integrationsrat mindestens eine parteinahe Liste an. In 25 dieser 37 Gemeinden gab es zudem mehrere parteinahe Listen, d.h. die Teilnahme einer etablierten Partei erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass auch andere etablierte Parteien teilnehmen.

Welche Faktoren können die Wahlbeteiligung erhöhen?

In unserer Studie sind wir anhand eines umfangreichen Datensatzes auf kommunaler Ebene der Frage nachgegangen, welche Faktoren die Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen erhöhen bzw. senken.

Zunächst hat sich entgegen unserer Erwartungen gezeigt, dass migrationsspezifische Faktoren, also z.B. der Ausländeranteil in einer Kommune oder die Einbürgerungsquote, keinen statistisch signifikanten Einfluss auf die Höhe der Wahlbeteiligung haben.

Einen positiven Einfluss auf die Wahlbeteiligung bei den Integrationsratswahlen hat hingegen die aktive Beteiligung der etablierten Bundesparteien (SPD, CDU, AfD, Die Linke oder Grüne). Wenn diese Parteien eine Liste unterstützen oder sogar selbst mit einer Liste zur Wahl antreten, steigt die mit unserem Modell geschätzte Wahlbeteiligung in den betreffenden Kommunen um durchschnittlich 1,7 Prozentpunkte. Bei einer durchschnittlichen Wahlbeteiligung von 13% ist dieser scheinbar geringe Unterschied durchaus substanziell. Gründe für diesen positiven Anstieg könnten in einem professionelleren Wahlkampf und einem gesteigerten Interesse durch die Einbeziehung der Bundesparteien liegen. Zudem dürfte die Integrationsratswahl durch die Beteiligung der Bundesparteien an Ansehen gewinnen und somit die Motivation zur Wahlteilnahme erhöhen.

Ein zweiter wichtiger Faktor, der sich nach unseren Analysen positiv auf die Wahlbeteiligung auswirkt, ist die „lokale Beteiligungskultur” auf kommunaler Ebene. Mit lokaler Beteiligungskultur ist gemeint, inwiefern innerhalb einer Gemeinde die Beteilung bei Wahlen als förderlich für die Demokratie betrachtet und von einem Großteil der Bürger:innen praktiziert wird. Sie lässt sich daher an der Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen ablesen und messen. Unsere Analysen zeigen, dass Kommunen mit einer hohen Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen im Durchschnitt auch eine höhere Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen aufweisen. Es findet somit eine Übertragung der sozialen Norm der Wähler:innen der Kommunalwahlen auf die Wähler:innen der Integrationsratswahlen statt (wobei sich diese beiden Wähler:innengruppen teilweise überschneiden).

Können Integrationsräte das Repräsentationsdefizit von Nicht-EU-Ausländer:innen kompensieren?

Integrationsräte sind ein wichtiger Schritt zur Verwirklichung eines Grundprinzips in Demokratien: die Einbeziehung aller Betroffenen in demokratische Entscheidungsprozesse. Allerdings gibt es sie nicht in allen Bundesländern und dort, wo es sie gibt, sind ihre politischen Kompetenzen begrenzt. Entsprechend niedrig ist die Wahlbeteiligung.

Unsere Forschungsergebnisse zeigen jedoch Möglichkeiten auf, die geringe Wahlbeteiligung durch Veränderungen in der Organisation der Integrationsräte zu erhöhen. Anhand unserer Analysen für die letzte Integrationsratswahl in NRW zeigt sich, dass vor allem die Beteiligung der Bundesparteien zu einer höheren Wahlbeteiligung führt. Entsprechend könnte diese Beteiligung bei zukünftigen Wahlen weiter ausgebaut werden. Ein weiterer Ansatzpunkt wäre die Erweiterung der politischen Kompetenzen der Integrationsräte, die zu größeren politischen Projekten und damit zu mehr Sichtbarkeit führen könnte. 

Vor dem Hintergrund des starken Einflusses politischer Partizipation auf die (politische) Integration von Zugewanderten kann die derzeitige Bedeutung der Integrationsräte sowie die geringe Wahlbeteiligung auch als Anlass für eine breitere Debatte über die politischen Partizipationsmöglichkeiten von migrantischen Bevölkerungsgruppen genutzt werden. Neben Ansätzen zur Veränderung bestehender Institutionen oder der Etablierung neuer Institutionen, sollte dabei auch die Erweiterung des kommunalen Wahlrechts auf Nicht-EU-Ausländer:innen diskutiert werden – wie es in vielen europäischen Nachbarländern bereits gelebte Praxis ist.

Anmerkung

Dieser Beitrag basiert auf einem Aufsatz, der 2022 in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie mit dem Titel „Grenzen politischer Repräsentation: Determinanten der Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen in Nordrhein-Westfalen“ zusammen mit den Co-Autoren Conrad Ziller (Universität Duisburg-Essen) und Nicole Marx (Universität zu Köln) veröffentlicht wurde. Der Artikel ist frei verfügbar unter folgendem Link: https://doi.org/10.1007/s11577-022-00863-2.

Literatur

Bausch, C. (2011a). Die politische Partizipation von Personen mit Migrationshintergrund in Ausländer- und Integrations(bei)räten. Politische Partizipation & Repräsentation in der Einwanderungsgesellschaft, Hrsg. Heinrich-Böll-Stiftung, 10-15. Berlin.

Bausch, C. (2011b). „Ich komm besser ran an die Menschen als ein Deutscher “ – Deskriptive Repräsentation am Beispiel von Ausländer-und Integrations (bei) räten. Krise und Reform politischer Repräsentation, Hrsg. Markus Linden und Winfried Thaa, 256-277. Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. https://doi.org/10.5771/9783845231914-256

Gesemann, F., & Roth, R. (2015). Integration ist (auch) Ländersache. Schritte zur politischen Inklusion von Migrantinnen und Migranten in den Bundesländern, 2.

Vierus, P., Ziller, C. & Marx, N. (2022). Grenzen politischer Repräsentation: Determinanten der Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen in Nordrhein-Westfalen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 74, 525–551. https://doi.org/10.1007/s11577-022-00863-2

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