Nachbarschaften als Integrationsräume – Erste Ergebnisse der Umfrage „Leben im Viertel“ (LiV)

Teresa Hummler

Nachbarschaften sind wichtige soziale Räume, in denen Menschen zusammenleben und miteinander in Kontakt kommen. Die sozialwissenschaftliche Forschung zum Einfluss von Nachbarschaften hat gezeigt, dass strukturelle Merkmale von Nachbarschaften, aber auch deren Wahrnehmung, Einfluss auf die sozio-kulturellen und politischen Einstellungen der Bewohnerinnen und Bewohner haben. Auch bei der Integration von Zugewanderten können Nachbarschaften eine gewichtige Rolle spielen. Denn: Die Entwicklung von Freundschaften und Bekanntschaften ist nicht unabhängig vom Wohnort. Die Nachbarschaft als Interaktionsraum beeinflusst möglicherweise auch den Blick auf die Aufnahmegesellschaft und die wahrgenommenen Chancen und Probleme. Dazu zählen auch negative Erlebnisse, wie rassistische Ausgrenzung. Das Projekt „Leben im Viertel“ (LiV) geht diesen und weiteren Fragen nach. Insbesondere interessiert uns hier die Frage, wie verschiedene Nachbarschaftsmerkmale die Integration von Zugewanderten aus muslimisch geprägten Gesellschaften beeinflussen.

Zugewanderte aus muslimisch geprägten Gesellschaften stellen die größte Gruppe an Zugewanderten dar, die während der sogenannten Flüchtlingskrise zwischen 2015 und 2017 nach Deutschland gekommen sind. In Bezug auf sozio-kulturelle Einstellungen zeigen bisherige sozialwissenschaftliche Forschungen Unterschiede zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, insbesondere hinsichtlich der Einstellungen zu Geschlechterrollen und religiösem Pluralismus, auf. Das LiV-Projekt betrachtet diese Unterschiede genauer und untersucht, ob Nachbarschaften die Integration fördern und zu einer Angleichung der Einstellungen von Zugewanderten aus muslimisch geprägten Gesellschaften an die der Aufnahmegesellschaft führen können.

Das LiV-Projekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unter dem Titel „Soziale Offenheit, soziale Kontrolle und Integration muslimischer Zuwanderer – Eine Panelstudie in Nachbarschaften ausgewählter deutscher Städte“ gefördert und unter der Leitung von PD Dr. Conrad Ziller an der Universität Duisburg-Essen durchgeführt. Dieser Beitrag stellt die LiV-Umfrage sowie deren erste Ergebnisse kurz vor.

Wie wird die Umfrage durchgeführt?

Die Umfrage ist als Längsschnittstudie mit zwei Befragungswellen konzipiert. Die erste Befragungsrunde wurde von Oktober bis Dezember 2022 durchgeführt. Insgesamt wurden für die LiV-Umfrage 40 Nachbarschaften in zehn verschiedenen deutschen Großstädten zufällig ausgewählt. Um zu gewährleisten, dass möglichst unterschiedliche Städte und Nachbarschaften für die Umfrage berücksichtigt werden, wurden die Städte und Nachbarschaften anhand des Armutsniveaus und des Grades an ethnischer Diversität klassifiziert. Nach der Klassifikation erfolgte die zufällige Auswahl der folgenden zehn deutschen Großstädte: Berlin, Bochum, Bremen, Dresden, Halle, Karlsruhe, Köln, Mainz, Nürnberg und Stuttgart. Anschließend wurden für jede Stadt jeweils vier Nachbarschaften ausgewählt, die vorher ebenfalls klassifiziert wurden. Für die Stadt Köln sind dies beispielsweise die Nachbarschaften Chorweiler, Ehrenfeld, Lindenthal und Nippes.

Wer wird befragt?

Bei der Stichprobe der LiV-Umfrage handelt es sich um eine Zufallsstichprobe, die aus den Stadtregistern der Einwohnermeldeämter gezogen wurde. Eine Besonderheit ist, dass Zugewanderte aus muslimisch geprägten Herkunftsländern überrepräsentiert werden. Das heißt, sie werden häufiger befragt. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass zuverlässigere Analysen für die Zugewandertengruppe durchgeführt werden können. Die muslimisch geprägten Herkunftsländer, die für die LiV-Umfrage berücksichtigt werden, sind Afghanistan, Irak, Iran, Pakistan und Syrien, also die Länder, aus denen die meisten Zugewanderten zwischen 2015 und 2017 nach Deutschland gekommen sind. Insgesamt haben an der ersten Befragung 2.283 Personen teilgenommen. Davon sind 878 Personen Zugewanderte aus muslimisch geprägten Herkunftsländern, während 1.405 Personen zur Gruppe „Allgemeine Bevölkerung“ gehören, welche deutsche Staatsangehörige sowie Zugewanderte mit einem anderen Migrationshintergrund umfasst.

Erste Ergebnisse – Wahrnehmung der Nachbarschaft

Ein zentrales Erkenntnisinteresse der LiV-Umfrage ist es, herauszufinden, wie die Befragten ihre Nachbarschaft wahrnehmen. Positiv fällt auf, dass ¾ der Befragten mit ihrer Nachbarschaft insgesamt eher oder sehr zufrieden sind. Allerdings ist etwa ¼ der Befragten eher oder sehr unzufrieden mit der Nachbarschaft.

Wichtige Faktoren für das Leben in einer Nachbarschaft sind das Vorhandensein von Infrastruktur sowie wahrgenommene Probleme. Hinsichtlich der Infrastruktur zeigt sich ein insgesamt positives Bild für die Nachbarschaften in deutschen Großstädten. So wurde insbesondere beschrieben, dass gute Anbindungen an den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) (genannt von 85% der Befragten), Einrichtungen der medizinischen Versorgung (75%), Einkaufsmöglichkeiten (74%) sowie Parks oder Wanderwege (71%) bestehen. Geringer war die Zustimmung bei Orten für Freizeit- oder Sportaktivitäten (43%).

Es werden tendenziell wenige Problemen in der Nachbarschaft wahrgenommen. Die am stärksten wahrgenommenen Probleme sind zu viel Verkehr (genannt von 32% der Befragten), Lärm (25%) und Müll (14%). Dass Gewalt ein Problem in der Nachbarschaft ist, wird am seltensten wahrgenommen (circa 5%). Gegenstand aktueller Analysen ist herauszufinden, inwiefern sich diese Faktoren auf die Integration von Zugewanderten aus muslimisch geprägten Gesellschaften auswirken.

Erste Ergebnisse – Sozio-kulturelle und politische Integration

Ein zweites zentrales Erkenntnisinteresse der LiV-Umfrage liegt in der Untersuchung von Nachbarschaftseffekten auf die sozio-kulturelle und politische Integration von Zugewanderten aus muslimisch geprägten Herkunftsländern. In Bezug auf die sozio-kulturelle Integration von Zugewanderten interessieren wir uns vor allem für Einstellungen zu Geschlechtergerechtigkeit und Toleranz gegenüber Fremdgruppen. Die Ergebnisse der LiV-Umfrage diesbezüglich zeigen, dass befragte Zugewanderte aus muslimisch geprägten Herkunftsländern im Vergleich zu Befragten aus der allgemeinen Bevölkerung eher konservativere Einstellungen haben. Der Aussage „Wenn Arbeitsplätze knapp sind, sollten Männer mehr Anspruch auf einen Job haben als Frauen“ stimmen zwar nur 13% der Befragten aus muslimisch geprägten Herkunftsländern eher oder voll und ganz zu, aus der allgemeinen Bevölkerung tun dies aber nur etwa 4%. Noch deutlicher zeigt sich dieser Unterschied, wenn es um Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten geht. Während 46% der befragten Zugewanderten aus muslimisch geprägten Herkunftsländern der Aussage „Schwulen und lesbischen Paaren sollte es gesetzlich erlaubt sein, Kinder zu adoptieren.“ eher oder voll und ganz zustimmen, ist die Zustimmung seitens der allgemeinen Bevölkerung mit 74% deutlich höher.

Im Hinblick auf die politische Integration kann man feststellen, dass befragte Zugewanderte aus muslimisch geprägten Gesellschaften sich durch eine höhere politische Zufriedenheit als die allgemeine Bevölkerung auszeichnen. Etwa 46% der befragten Zugewanderten sind eher oder sehr zufrieden mit der Arbeit der Bundesregierung, während dies nur auf etwa 34% der Befragten aus der allgemeinen Bevölkerung zutrifft. Auch mit der öffentlichen Verwaltung sind die Zugewanderten deutlich zufriedener. Wenn es jedoch um die eigenen Fähigkeiten im Bereich der Politik geht, schätzen sich Befragte der Zugewandertengruppe deutlich schlechter ein. Nur 49% der befragten Zugewanderten geben an, aktuelle politische Themen, die die Bundesrepublik Deutschland betreffen, gut oder sehr gut zu verstehen. Im Vergleich dazu sind es bei der allgemeinen Bevölkerung 70% der Befragten. Momentan werden weiterführende Analysen durchgeführt, um den Einfluss von Nachbarschaften auf die sozio-kulturellen und politischen Einstellungen der Zugewanderten abschätzen zu können.

Ausblick

Die Ergebnisse der LiV-Umfrage geben interessante Einblicke darüber, wie Menschen in deutschen Großstädten ihre Nachbarschaft wahrnehmen und wie sich die sozio-kulturellen und politischen Einstellungen von Zugewanderten aus muslimisch geprägten Gesellschaften von denen der allgemeinen Bevölkerung unterscheiden. Weiterführende Analysen sowie die zweite Befragungswelle der LiV-Umfrage, die im Herbst/Winter 2023 durchgeführt wird, werden hierzu weitere spannende Erkenntnisse liefern.

Literaturhinweise

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Deutsche Forschungsgemeinschaft: Projekt: Soziale Offenheit, soziale Kontrolle und Integration muslimischer Zuwanderer – Eine Panelstudie in Nachbarschaften ausgewählter deutscher Städte, https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/439200663?context=projekt&task=showDetail&id=439200663&.

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